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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

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Heft 24 (2. Septemberheft1910)
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Rath, Wilhelm: Marie von Ebner-Eschenbach: zu ihrem achtzigsten Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0426
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Sinn für Feierlichkeit" nicht gegeben — ein Sinn, der nicht mit
vornehmem Stilgefühl verwechselt werden darf.

Immer sicherer, immer feinsichtiger griff Marie von Ebner seit
1870 in das Menschenleben, das anr nächsten sie umgab, das sie als
teilnehmend mitlebende Zuschauerin in allen Tiefen und auch in
seinen beliebten Untiefen durchschaute. Aus dem Lrdreich, in dem
sie heimisch war und ohne irgendeine nennenswerte Auterbrechung
heimisch blieb, erwuchs ihr die dichterische Meisterschaft. Die Fragen
des Künstlerlebens, dem sie ja ebenfalls von Geburt zugewiesen war,
haben sie zu mehreren ihrer besten Schöpfungen („Lotti", „Ver--
schollen", „Vogelweid") angeregt. Im übrigen aber dürfte man ihr
gesamtes wesentliches Schaffen mit dem Doppelwort kennzeichnen,
das sie zweimal für Novellensammlungen gewählt hat: „Dorf- und
Schloßgeschichten".

Dorf und Schloß sind ihre Welt. Vom ländlichen Schloß aus hat
sie sich das Dorf erobert. Mit dem großstädtischen Leben mochte sich
die Dichterin, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, nur insoweit
beschäftigen, als die Schloßgeschichten zur Winterszeit eine Aber--
siedlung in die adeligen Wiener Salons nötig machten. In einer
unübersehbaren Fülle von Gestalten spiegeln ihre Novellen und größe--
ren Erzählungen österreichisches, insbesondere mährisches Dorfleben
und österreichisches Adelsleben des neunzehnten Iahrhunderts mit
unübertrefflicher Treue. Vom Elend der ärmsten tzütte bis zum
fürstlichen Luxus einer alten, unverwüstlich leichtlebigen Aristokratie
ist alles Charakteristische dieser beiden Sphären, die so seltsam einander
ergänzen, von einem unbestechlichen Augenpaar gesehen und von
feinnerviger Künstlerhand mit aller Lebenswärme in dichterische Ge--
staltung geborgen. Oft genug erhärtet das Schaffen dieser Frau ihr
Wort, daß jedes Dorf, jedes tzaus seine besondere Physiognomie habe.

Anbestechlich steht Marie Ebner ihrer Welt gegenüber, aber ganz
und gar nicht etwa unempfindlich. Im Gegenteil, die Schärfe der
Beobachtung, so bewundernswert sie arbeitet, ist ähnlich wohl auch
einzelnen anderen zu Gebote, die im übrigen weniger hoch zu stellen
sind, und vornehmlich gerade auf der Mächtigkeit (ein gutes Bild
aus dem Bergbaulichen) des Empfindens ruht die Bedeutung unsrer
Dichterin. Reichtum des Herzens entscheidet auch hier.

Dabei bietet sich eine vortreffliche Gelegenheit, wieder einmal dem
alteingefressenen Irrtum zu begegnen, als sei Gutmütigkeit gleich-
wertig mit Güte, die Güte denkbar ohne Vernunft. Wir brauchen
nur im Aphorismenband Marie Ebners zu blättern, um es von
ihr-selbst zu vernehmen: „Die Gutmütigkeit gemeiner Menschen gleicht
dem Irrlicht. Vertraue nur seinem gleißenden Schein, es führt dich
gewiß in den Sumpf." Oder: „So mancher meint ein gutes tzerz
zu haben und hat nur schwache Nerven." Aber wiederum: „Man
muß das Gute tun, damit es in der Welt sei." „An das Gute
gkauben nur die wenigen, die es üben" und: „Wie weise muß man
sein, um immer gut zu sein!"

Schon das ist höchst bezeichnend für diese Dichterin, daß sie sich
immer wieder mit dem Verhältnis des Verstandes zur Güte beschäftigen
muß. „Der Geist", sagt sie, „ist ein intermittierender, die Güte ein

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