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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

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Heft 3
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Bartels, Adolf: Poesie und Sittlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0043

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Lrttes Oovemberbekt 1SS4.

3. Dett.

Lrscheint

Derausgeber:
Feuüinänü ÄvLnsuius.

Vestellxreis:
Nierteliäbrlich 2>/s tNark.

S. Zghrg.

Ipoelie und

,s müßte schlimm zugehen", sugte Gvethe zu
Eckermann. „wenn ein Buch unuwralischer
wirken svllte als das Leben selber, das
täglich der skandalösen S.enen in Ueberslnß,
wo nicht vor unsern Augen, doch vor vnssru Ohren
entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man ivegen der
Wirkung eines Buches oder Theaterstücks keineswegs
so ängstlich zu sein. Das tägliche Leben ist, wie ge-
sagt, lehrreicher als das wirksamste Buch." Man wird
dieser Ansicht auch heute noch beipslichten müssen, selbst,
wenn man zuzugeben hätte, daß die sittlichen Zustände
seit Goethes Tagen besser oder dvch die oerhüllenden
Formen zahlreicher und praktischer geworden wären, von
dem heute uuzweifelhaft wachsameren Auge der Pvlizei
abgesehen. Die imnier mehr zunehmende Zusammen-
pferchuug der Menschen in große Städte, die Ueber-
rragung großstädtischen Geistes auf das Land. die un-
unterbrochene Thätigkeit der Presse, der literarisch nicht
zählenden vor allem, die jedes Berbrechen, jeden Skandal,
jeden Klatsch an die Oeffentlichkeit bringt, machen es
heute aller Wahrscheinlichkeit uach noch leichter, „das
Leben kennen zu lernen", als es in der Zeit vor Ein-
führung der Eisenbahnen und Telegraphen möglich war;
Buch und Theater sind in dieser Hinsicht oöllig über
flüssig, können höchstens nnr „ein Üdriges" thun.
Nichisdestoweniger haben die Klagen üder die Unsitt-
lichkeit der Literatur in der Neuzeit eher zu- als ab-
genommen, u»d namentlich die des letzten Jahrzehnts
hat unter Anschuldigungen, Berdächtigungen, polizeilichen
Beschlagnahmen mehr leiden müsfen als, mit Ausnnhme
der des jungen Deutschlands vielleicht, irgend eine vor ihr.

Littlicbkeit.

Daß es nun wirklich eine unsittliche Literatur
gibt, daß sich sogar hochberühmte oder -berüchtigte Bücher
in ihr befinden, die immer wieder gedruckt werden,

und daß Jahr für Jahr noch neue hinzukommen, wird
man nicht gut bestreiten können Es ist richtig,
das eine oder das andere dieser Werke außer seiner
unsittlichen auch wertvolle Eigenschaften, etwa sitten-
geschichtliche Bedeutung hat, es mag einmal vorkommen,
daß ein neues Bnch unverschuldet unter sie gerät, im
großen Ganzen aber tragen die unsittlichen Büchsr

sEa/'ch- den Stempel ihre Abstammung und Be-
stimmung so deutlich an ihrer Stirn, daß ein anstündiger
Mann sie, sobald sie ihm in die Hände fallen, auf dem
kürzesten Wege aus der Welt schafft. Denjenigen, der
das Verhältnis von Poesie und Sittlichkeit feststellen
will, kümmert diese leider unausrottbare Schand-

literatur uicht im geringsteu; seine Aufmerksamkeit be-
ginut erst da, wo unzweifelhaft Poesie vorhanden, Poesie
und Sittlichkeit auscheinend zusammengetroffen, das
heißt, Personen und Dinge mit dichterischer Kunst dar-
gestellt sind, über die man in guter Gesellschaft nicht
oder doch nur mit sittlichem Pathos und in dunkeln
Worten spricht.

Jch setze, ganz erfahrungsgemäß, zunächst einmal
das Urteil der gnten Gesellschaft, mag diese in Wirk-
lichkeit auch uur sehr bruchstückweise vorhanden sein,

als Maß der Sittlichkeit; denn über die theoretische
Frage, was im Sinne höchster Moral sittlich und was
unsittlich sei, dürfte eine Vereinbarung so leicht nicht
zu erzielen fein. Jn der guten Gesellschaft kann mau
in der ihr angemessenen Form über alles reden, unr

«W M Sctmlc M IWM.
 
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