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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

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Heft 13
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Bie, Oscar: Das Klavier
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0205

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nach klaviermäßig. Jm Jneinandergreifen der Hände, im
ranschenden Entwickelnder Passagen, in einem Erfahrungs-
reichtnm, der Chopinschen Dnst, Schnmannschen Gesang
und die tansend Ausdruckssormen des moderneu Orchesters
zn einer grandiosen Einheit mischt, enthüllt sich eine phäno-
menale Technik, die dieser ganzen Entwicklung ihre Krone
ansznsetzen scheint. Wiederum ist, wie unter Beethoven,
das Klavier der reine Dolmetsch des gleichzeitigen .
Orchesters in der Sprache der Kammermnsik geworden.

Dort stehen wir. Liszt ist tot, sein Werk ist Ge-
meingnt geworden, aber wir stehen immer noch dort.
Man sucht vergeblich nach neuen Ansätzen, nach Ansätzen,
die so wie das Werk Chopins, Schnmanns, Liszts Offen-
barnngen sind. Es wird an dem Alten fortgearbeitet, wenn
Kröger in seinen beachtenswerten Etuden, die er dem
ersten Lisztschüler d'Albert widmete, ans dieser ün
Stnrme eroberten Welt Schnlparadigmata mit moderner
Charakterisierungs-Überschrift destilliert, oder wenn Sten-
hammer in seinen hervorragenden Klavierkonzerten in
freiester Phantasie ans den gewonnenen Ersahrungen
neue Kombinationen knüpft, oder andere noch so Be-
gabte an dem Werke Liszts weiterspinnen. Noch sind
wir am Horizonte des Riesenkessels, der Liszt heißt,
uicht angelangt. Wir sind Epigonen in der Klavier-
literatur, und darum der verwirrende Eindruck der
Überprodnktion, aus dessen Wogen wir keine Felsen
steigen sehen. Eine andere Antwort wird sich schwer

geben lassen, und eine Prophetie läßt sich noch schwerer
geben. Anch vor Schnmann war eine größere, von
Epigonen gefüllte Lücke, nachdem der Riesenatem Beet-
hovens verhancht war. Vielleicht sind wir in der ent-
sprechenden Lücke nach Liszt. Und wir stehen wieder
vor der Zeit, da das Klavier intimeres Jnstrument
wird. Wohl läßt sich da ein großes Vielleicht-Exempel
, aufstellen. Vielleicht überzieht derselbe Natnralismns
unsere Mnsik, wie er unsere Literatur durchgeknetet hat
— die Musik Pflegt ihr ja zn folgen. Vielleicht kün-
digen sich die Borboten ans dem kleinen Orchester an,
das man so leicht mit zwei Händen spielt. Freie
Phantasien, ohne jede Rücksicht anf Traditionen, Über-
setznngen Klingerscher Radierungen anf dem Klavier,
schrankenlose Ergüsse der Seele, ohne Takt, ohne Kon-
strnktion, reinster Ausdruck, reinste ünrere Entwicklnng,
aus der Jmprovisation ihre Kunstsorm bildend — es
läßt sich wohl denken, daß das Klavier diese neue Ära
bedentnngsvoll eröffnen könnte, das Klavier, das !
schrankenloseste aller Jnstrnmente, das nunmehr ein ^
Einzelner zur Verfügnng hat. Der Meister, der
dieses vollbrächte, wäre der kommende Psadftnder, nnd
ich träume mir manchmal im Stillen diesen Meister.
Kommt er nicht, so hat das Klavier mit seinem Jahr-
hnndert seine Prodnktive Rolle ansgespielt.

Gskar Kie.

Ikundlckau.

DLcdtung.

* Scböne Literntur.

Gottes A a r r. Eine Koopstader Geschichte. Roman
in drei Teilen von Maarten Maarten s. (Köln,
Albert Ahn).

Jch habe den Lesern jüngst gesagt, daß ich ihnen etwas
ganz seltenes, eine nelie wirkliche Dichtnng nämlich, empfehlerr
könnte. Wars nicht zu viel versprochen? Um sicherer zn gehen,
hab ich seitdem das Bnch noch einmal gelesen. Aber es bleibt
dabei: „Gottes-Narr" von Maarten Maartens ist eine echte
Dichtung.

Daß der Leser etwas ganz nnd gar Ungewöhnliches vor
sich hat, wird ihm schon nach den ersten Seiten klar. Da wirbt
keiner nm seine Teilnahme, nm seine Guilst; sozusagen im Haus-
rock tritt ihm der Nerfasser gegenüber, und wie er Kopf und
Herz voll hat von einer seltsamen Geschichte, so spricht er davon,
ganz unbefangen, wie, um sich selbst drüber klar zn werden,
mehr mit sich selbst also, als mit dem Zuhörer beschäfligt, dessen
dlnivesenheit ihm nur gelegentlich mal einfällt. So greift er
bald vor- und bald rückwärts, bleibt jetzt stehen, den Gegenstand
fest im Auge, spricht dann ernst, plaudcrt nun scherzend da-
rüber, schweift auf cinen Nebenweg ab, kehrt zurück. Also gar
keine künstliche Komposition, sondern eine Erzählweise, wie sie
knnin bei den englischen Humoristen willkürlicher zu finden ist.

! illber dvch eine der Kunstmittel sehr wohl bewußte, überlegene.
Denn ganz sacht, ganz allmählich umspinnt uns das alles, und

schließlich blicken wir wie gebannt auf ein Menschenbild, das
vor uns aufgewachsen ist.

Wird es uns doch dann, als hütten wir an der Seite des
„Gottes-dkarren" sein Leben bis jetzt mitgelebt. Jm Reichtum
ist dieser arme Elias zur Welt gekommen, beneidet ivar er in
seiner frühesten Kindheit oon jedem, der nur beneiden konnte;
er stand mit seinen neun Jahren recht mitten darin im Sonnen-
schein des Glücks, als der eine seiner beiden kleinen Stiefbrüder
vom Balkon her im Ubermute den Blumentopf auf sein lachendes
Gesicht hinunterwarf. „.Keine Hoffnung", sagte dann der Arzt
aber Elias blieb doch am Leben. Nur daß er taub tvurde,
nur daß er ein paar Jahre darauf auch blind ivurde, nur daß
man sein geschwüchtes Gehirn nicht mit Lernen anstrengen
durfle, lveil er dann vielleicht blödsinnig geworden würe. So
hat er denn in der ferneren Zeit, abgetrennt von den anderen,
an der Seite seiner treuen Wärterin nur wenig von den Dingen
der Welt erfahren, ivenn man ihm davon mit dem Finger auf
den Handrücken vder den Nacken schrieb. Und so blcibt es, wie
er heranivächst. Am Körper ist er ivundervoll gediehen, der dreißig
jührige mit den goldigen Locken, die er sich nicht mehr schneiden
lüßt, seit er weiß, daß sie denen seiner Mutter ähneln. Aber
sein Gehirn ermüdet so leicht im Denken. Jm Fühlen da ist er
stark, mit dem Fühlen denkt er gleichsam, mit dem Fühlen er-
innert er sich, mit dem Fühlen lebt er mehr sogar, als die
andern. Seine Mutter ist ihm gestorben, als er ein fünsjähriger
 
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