Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

DOI Heft:
Heft 9
DOI Artikel:
Carstanjen, Friedrich: Die neue Ästhetik, [1]
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0142

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Lchönen" rnht, sondcrn, tvie jetzt nuS der Definitivn
hervorgeht, nnf der Frnge nnch deni nsthetischen
Berhnlten. Dieses nllein ist dns einstweilen Unbe-
knnnte, nicht dns sogennnnte „Schöne". Ans der nenen
Ästhetik wird letzteres einstweilen einmnl verschwinden,
nls überall vornusgesetzke Urteilsform. Dnbei ist zu
bemcrken, dnß nnch der Ansdrnck „ästhetisch" eine Cha-
rnkteristik ist: ein Gegenstnnd kann nicht nsthetisch vder
nnnsthetisch sein, nnr dnß, wie er auch sei, wir nns
ihm gegennber nsthetisch verhnlten können. Dns ist
es, nm wns es sich handelt.

Soll einc Ästhetik nns nntnrwissenschnftlicher Grund-
lnge ansgebnnt wcrden, so hnt sie uicht nnch dem
„Schönen" oder nnch dem „Jnteressnnten", dem „Erhnbe-
nen", „Chnrakteristischen", dem „Bollkommenen" u. s. lv.
zn frngen, sondern nnr nnch den biologischen Gesetzen
des nsthetischen Berhaltens. Dns ist dns wichtige Er-
gebnis nnserer Untersnchnng.

Wir wollen nnn die Bedentnng des bisher Fest-
gestellten sür die Ännstbetrnchtnng belenchten.

„S ch ö n" als D b a r a k t e r i st i k.

Nnchdem wir das svgenannte „Schöne" znrück-
gesührt nns dns nneigentliche Eigenschnstsnwrt „schön"
nnd dieses nls individnelle Chnrnkteristik anfgestellt
hnben, woltcn wir nun einmnl die Bedeutnng darthnn,
welche ein solgcrichtiges Festhnlteu dnrnu sür die Knnst-
theorie hnben wird.

Betrnchten wir zunnchst dns Allgemeine, den Ein-
flnß nnf die sprnchliche Behnndlnng, die Ausdrncks-
weise Jch wnhle dnzn ein Pnar Beispiele.

Altmeister Jnkob Bnrckhnrdt schickt in seinem „Ci-
eerone" (II. 1. S. 86 Anfl. V) der Abhnndlnng über
die Renaisfnncedenkmnler eine knrze Einleitnng voraus
und sngt dnbei (ich greife einige Sntze herans): „Die
Profiliernng hnt lnnge den Chnrakter der Willkür nnd
trifft das Wnhre nnd Schöne mehr dnrch nnbewnßten
Tnkt, nls vermöge eines Systems." Ferner: „Es ge-
nügt noch lnnge nicht, konstrnktiv nnd organisch zn
bnuen, um nuch schön zn banen." Bleiben wir einmal
bei diesen Sntzen. Wenn wir strikt dnrnn festhnlten,
im sogennnnten „Schönen" nnr eine Charnkteristik zu
sehen — und wie ich gezcigt hnbe., müssen wir dns
ganz unbedingt — dnnn hört diese Ansdrncksweise
wissenschnftlich nnf, und mit ihr fchwinden fo viele Un-
klarheiten nnd Verwirrnngen. Wir können nicht dns
„Schöne", nicht eine Charakteristik „treffen", weder
dnrch nnbewnßten Tnkt, noch vermöge cines Systems.
Wir können nnch nicht „schön bnnen". Wir können
„stilgerecht" bnnen, „einheitlich", „hnrmonisch", „bnrockP
,,dentsckch oder sonst wns — nber nicht ,,schönT Denn
ob dns Gebnnte nls schön empfnnden nnd charakterisiert
wird, dns hnngt unmittelbnr nnr nb von den Jn-

dividuen, die dnvor stehen, beziehnngsweise von deren
Urtcilssnhigkeit. Wir ,,bnnen" — nber wir bauen
nicht ,,schön". Wenn wir uns fo ausdrücken, fo ist
dns ungennn und unrichtig, denn wir trngen ein Ur-
teil, welches sich erst von Seiten der verschiedenen Jn-
dividnen nn den Ban knüpft, in den Bnn hinein, als
dessen materiale Eigenschnft. Und das ist falsch. Aus
dieser sprnchlichen Ungenanigkeit ist nll der große Wirr-
wnrr der Ästhetik entstanden.

Ferner sagt Burckhart ebendn: ,,Wo ein Reiz für
das Ange vorliegt, dn liegt nuch irgend ein Elcment
der Schönheit", nnd weiter: ,,Ja, es werden Anfgaben
gelöft, Elemente der Schönheit zn Tnge gefördert,
welche u. s. WB Elemente der Schönheit, Elemente
einer Charakteristik? Dns geht wiedcr nicht. Es ^
können nnr Formelemente, Stilelemente zu Tage ge-
fördert werden, nicht aber Elemente eines Schönen;
diese gibt es gar nicht.

Der Grund, weswegen wir nns folchcr Ausdrucks-
weise bedienen, liegt nnhe. Wir sagen auch: ,,Jch sehe
ein nnffes Tuch", nnd sind nns gnr nicht dabei be-
wnßt, dnß wir wohl ein Tnch sehen können, nicht nber
unmittelbnr ,,sehen", dnß es nnß ist. Denn die Nnsse
selbst können wir nicht mit den Augen lvnhrnehmen,
sondern blos dnrch unser Tnstgesühl. Was wir sehen,
sind gewisse Merkmale, von denen wir nus früherer
Erfnhrnng wissen, dnß sie mit Nnfse verbnnden wnren,
oder zn sein Pflegen. Wenn wir statt dessen sngen:
,,ich sehe Nässe", so ist dns einc A b kürz un g einer ,
sonst nllzn umständlichen Bezeichnung. Unsere ganze
Sprache ist voll solcher Abkürzungen. Wir können incht
ohne sie sein. Wir sagen: ,,ich sehe ein Stück Zucker",
,,ich höre die Thür gehen" n. s. w., während ich blos
einen weißen Würfel sehe, von dem ich annehme, er
schmecke süß — nnd nur ein Geränsch höre, von dem
ich annehme, dnß es mit der Thür in Verbindnng
steht. Ebenso ist es aber nur eine abgekürzte Ans-
drncksweise, wenn ich snge: ,,ich sehe ein schönes Ge-
mülde." Jch sehe in der That nur ein Gemälde,
von diesen und jenen mnterialen und formnlen Be-
fchaffenheiten, welche ich dnnn dndnrch für mich
chnrnkterisiere, dnß ich aussage, fie feien für mich schön.

Was der Ästhetik not thnt, das ist uicht etwa,
dic Chnrnkteristik ,,schön" stets nnr in der Forni eines
Urteils umständlich anzuwenden. Jn der allgemeinen
Kuustbetrnchtung können wir uns nnch ferner fehr gut
der abgekürzten Ausdrucksweise bedienen. Wornuf es
nber wifsenschaftlich nnkommt, das ist, den Gebrnnch
derselben dort zn vermeidcn, wo er überflüssig ist,
oder zn Jrrtümern Vernnlnssung gibt, und nns stets
bewußt zn bleiben, daß wir abgekürzt hnben, wenn es
geschehen ist, und dnß wir mit dem Eigenschaftswort


G'

— —
 
Annotationen