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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

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Heft 13
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Bie, Oscar: Das Klavier
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https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0203

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Lrltes Aprilbett 1895.

13. Dekt.

Lrscheint

Dcrausgeber:
Fenüittänü AvLnsnitts.

Bestevxreis:
Vicrteljährlich 2>/2 tNark.

S. Zäkrg.

Das Mavier.

ch habe keine Statistik darüber, wieviel Klavier-
kompositionen in den vergangenen Jahr-
hunderten unter den Tisch gefallen sind.
Man denkt es sich oft, daß die Überprodnktion
nicht blos ein Zeichen nnd eine Klage unserer Zeit,
sondern daß sie irmtatis rautLnäis anch frnher nicht viel
anders gewesen fei. Aber beweisen kann man das
schwer. Denn die Vergessenheit, in die Tansende von
gedrnckten, Millionen von ungedruckten Werken sinken,
ist rabenfchwarz gegen das weiße Licht, in dem die
wenigen, für eine größere oder kleinere Ewigkcit be-
stimmten Kunstwerke nns entgegenlenchten, die aus der
Vergangenheit uns geblieben find. Heute freilich sehen
wir diesen Schlund der Vergessenheit in unserer nächsten
Nähe. Wir sehen, wie tagtäglich Kompositionen, die
anf ihre Veröffentlichnng wie anf einen Festtag gewartet
haben müsfen, in das Nichts versinken, ohne Erbarmen
und ohne Lohn. Und dabei fragen wir uns: Welches
werden für eine spätere Zeit die Spitzen sein, die ans
diesem Chaos hervorragen? Wo sind heut die bleibenden
Werke, die aus dem Daseinskampf dieser Millionen ihr
Leben oder gar ihre Unsterblichkeit retten? Die Ant-
wort versagt, nnd das ist es, was nns die heutige
Überprodnktion doch vielleicht in andercm Lichte er-
scheinen läßt, als diejenige anderer Zeiten.

Jch will beim Klavier bleiben, denn das Klavier
ist die Königin unter den heutigen Jnstrumenten. Es
ist populürer, als jemals Laute nnd Kithar waren. Es
j ist das Universalinstrument für alle mnsikalischen Reg-
ungen künstlerischer und dilettantischer Art. Es ist das

Abbild des Orchesters im Zimmer. Der Musiktheoretiker
lehrt an ihm Wesen nnd Entwicklung der harmonischen
nnd der melodischen Elemente. Der Komponist führt
fich an ihm die Klangwirknng seiner inneren mufikalischen
Erlebnisse sinnlich zu Gehör. Der Virtnose dentet an
ihm die Konturen des Orchesterwerkes, das er zu über-
fetzen bestrebt ist. Der Dilettant füllt an ihm sein Ohr
am ehesten mit der vollen nnd lückenlosen Vielseitigkeit
der absoluten Mnsik. Es ist ein unentbehrliches Ton-
iverkzeug, ja es ist das charakteristische Jnstrnmcnt
unseres Jahrhunderts geworden. Und also auf einem
Jnstrnment von dieser Bedeutung steht hente die Literatnr
still, ragt keine individnelle Arbeit hervor, die sich fo-
fort ins Gedüchtnis prägte, ist alles rnhig nnd eintönig
und epigonenhaft geworden. Physiognomien der Klavier-
literatnr, wie wir sie von früher her kennen, sind hent
unbekannt. Was komponiert wird, wird zum geringsten
Teile gespielt. Und was gespielt wird, länft in den
alten, von den Meistern gezeichneten Bahnen.

Vielleicht finden wir eine Erklärung, wenn wir in
die Gefchichte znrückblicken. Das Klavier machte cine
langsame Emanzipation dnrch, bis es sich seine Stellnng
im neunzehnten Jahrhundert errang. Jn feinen ersten
Formen ein Orchesterinstrument wie andere, fängt es
an, fich zu individnalisieren zu einer Zeit, da überhanpt
erst der Begriff einer felbständigen Kammermnsik anfzn-
tanchen beginnt, in der Zeit der venezianischen Schnle.
Wie die Venezianer Maler unter den Jtalienern der Klassik
die ersten sind, bei denen ein feinerer Sinn für strenge
Charakteristik der Einzelpersonen im Geiste etwa einer


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