nung der Charaktere sanft schattiert, verwischt — kurzmn, es
sollte ein ganz neuer Eindruck erzielt, etwas verblüffend Neues
aus dem Schillerschen Stiicke herausgeschaffen werden.
Das Ezperiment einer kiinstlichen Modernisierung inißlang,
und das war gnt.
Es war gut, weil auf den Theatern diese unangebrachte
Erneuerungssucht bereits zu einein Ilbel geworden ist, dem mau
entgegentreten sollte.
Man hat es hier anf den ersten Blick lediglich mit einer
Stilwidrigkeit zu thuu. Es steckt aber mehr dahinter, nämtich
eine Machtfrage zwischen dem lebendigen darstellenden Schau-
spieler und dem toten Dichter, vder allgemeiner gesagt, zwischen
n n sere r Geist- und Empfindungswelt und der des Schöpfers.
Ein namhafter Schauspieler und Bühnenleiter sprach sich
einmal mir gegenüber belehrend über diese Frage aus. Mitter-
wurzer hatte uns den „Tell" vorgespielt — „genial" natürlich.
Jch äußerte uun die Meinung, wenn Schiller diesen Telt
sähe, niüßte er sich wohl einige Zeit besinnen, ob das eigentlich
sein Tell sei, wie er ihn sich schöpferisch gedacht, wie
er ihn wollte. Das mag sein, wurde mir erwidert,
aber ist es nicht gerade das Grvßartige dieses Genies,
daß er einen durch und dnrch originellen Tell schasst? Er
spielt Jhnen den Tell sechsmal hiutereinander, und immer ists
ein anderer, immer nen, immer verblüffend. Jch hielt dem
entgegen, es komme doch nicht darauf an, stets einen möglichst
eigenartigen, nie gesehenen Telt vor Augen zu stelleu, sondern
dem Dichter nachstrebend zu schaffen. Die höchste küust-
lerische That wäre doch nicht, einen Tell vou Mitterwurzers
Gnaden zu gcstalten, sondern den von Schillers Gnaden. Das
ließ man mir aber nicht gelten. Jn der Theorie höre sich das
ganz schön an, die Praxis der Bühne aber verlange etwas an-
deres. Sei es denn nicht wünscheuswert, daß uns die Ge-
stalten unserer Dichter durch die originelle Auffassung des dar-
stellenden Künstlers immer wieder interessant gemacht nnd mensch-
lich näher gebracht tvürden, indem man sie mit „moderner Em-
pfindung" beseelte? Das Publikum verlange dies auch. Es
gehe doch nicht ins Theater, um Schillers „Tell" wieder und
wieder zu sehen — es wolle Mitterwurzer sehen, oder sonst
eineu berühmten Künstler. Wie ivolle aber einer auf Berühmt-
heit Anspruch machcn, wenn er nicht eiu „ganzer Kerl" sei, der
aus dem alten Stück etwas Neues heraushole.
Da ist etwas Wahres daran. Es fragt sich aber nur, was
von Kunst wegen dazu zu sagen ist. Das „Publikum" hat
das deutsche Theater nicht geschaffen, sondern die deutsche Kunst.
Die dentsche Literatur ist groß gewordcn nicht „aus Riicksicht auf
das Publikum", sondern ohne Rücksicht darauf. Deshalb ist
es keine ernste Frage: was wir höher anzuschlagen haben, die
Befriedigung der flüchtigen Tagesneugier des gewöhnlichen
Theaterbesuchers, oder die Erhaltung der echten dichterischen
Auffassung, die in den anerkannten Werken unseres Bühnen-
schnfttums niedergelegt ist.
Nun ist zunächst eines nicht zu übersehen. Theaterstücke
haben wie die Bücher ihre Schicksale. Alles Jrdische ist ver-
gänglich. Auch die Dichterwerke sterben. Das ewige Leben ist
nur sehr wenigen Geisteserzeugnissen geschenkt. Ein Kunstwerk
lebt genau so lange, wie es mit uns lebt, und wir mit ihm.
Es wirkt auf uns um so lebendiger, je enger die Gemeinschaft
der Empfindungen ist, die von dem Dichter ausgingen und noch
ausgehen und unseren eigenen, mit unserem Fleisch und
Blut, uusereu Gedanken, unserer Erziehung zusammenhängenden
Einpfinduugen. Nun giebt es Schöpsungen, in welchen so vicl
Ewig-Menschliches, llnsterblich-Wahres niedergelegt ist, daß sie
dadurch selbst allem Ermessen nach unsterblich sind. Aber deren
besitzt jedes Vvlk, wenn es überhaupt damit begnadet wurde,
eine, zwei, vielleicht drei. Wir denken z. B. an „Faust". Weit-
aus das meiste, was wir gemeinhin „klassisch" nennen, wird
durch keine Kunst, nicht durch deu kühnsten Schanspicler, nicht
dnrch elektrische Ströme am Leben erhalten werden, worunter
wir, wie gesagt, das Mitleben nnseres Jchs, das Aufgehen
unserer eigenen Gedanken- und Einpfindungswelt in der des
Dichters verstehen. Wir belügen uns selbst. wenn wir uns
sagen, Schillers „Kabale nnd Liebe", vder gar seine „Räuber"
könnten aus uns ebenso oder annähernd so wirken, wie auf die
Menschen, die vor mehr als hundert Jahreu sich an diesen Stücken
begeisterten. Man frage sich doch einmal genau, was >vir bei
einer Aiifführung etwa des „Kaufmanns von Venedig" eigent-
lich empfind en? Mit diesem Stück aus dem 16. Jahr-
hundert hat die Schanspielkunst das Mögliche und Unmögliche
gethan. Einen „großartigen" Shylock zu spielen, ist ja der
Ehrgeiz jedes Charakterdarstellers. Man hat bald ein blutiges
Schanerstück, bald ein Lustspiel, bald eine übcrmütige Pvsse,
bald ein Mischmasch aus allem daraus gemacht. Aber wie es
auch dargestellt wird: genießen wir dabei wirklich eine echte,
rechte, unser ganzes Gefühl beherrschende Empfindung, leben
wir geistig mit dem Dichter? Alle Schulgelehrten werden ent-
nistet sagen: wie kann man so etwas über Shakespere schreiben,
über unsereu Shakespere, über den größten Dramaliker aller
Zeiten, den unsterblichsten aller Dichter! Gemach, muten wir
unserer Phantasie doch nur eine Kleinigkeit zu, einen Katzen-
sprung. Stellen wir uns einmal vor, wir wüßten gar nichts
von Shakespere — es gibt ja Millionen, die thatsächlich nichts
vou ihm wissen — und denkeu ivir weiter, ein uns noch unbe-
kanntes Stück, also eine Novität, betitelt der „Kaufmann von
Venedig", würde vor uns aufgeführt — ivie würde das Stück
auf uns wirken?! Wir würden einfach an dem Verstand des
Direktors zweifeln, der uns eiue solche blutrünstige Phantasie-
geburt zuzumuten den Mut hätte. Uud dennoch sind ivir
darüber einig: wenn dieses Stück ein Kuiistwerk ist, muß es
a ls svlches aus uns wirken, ob nun der Bersasser Shakespere
heißt oder Sndermann, Meier vder Müller. Wollen wir heute
urteilen, wie dieses S t ü ck a l s solches auf das Volk ivirkt,
so müssen wir uns unter die Galeriebesucher mischen, ivelchen
der Verfasser als solcher gleichgiltig ist. Man wird da finden,
daß die Leutchen, die aus etwas feinerem Stoffe sind, kühl
bleiben, oder aber sich abgestoßen fühlen. Das Stück bleibt ihnen
fremd und deshalb ilnsympathisch. dlnders freilich die Lcute
aus rohem Stosf. Der Metzgergeselle hat ein großes Gaudium
an der Prellerei des rachgierigen Juden. Jn i h m lebt eben
noch ein Teil der derben Empsindungswelt der Meuscheu, zu
deren Vergnügen vor rund dreihundert Jahreu Shakespere
seine Komödie verfaßte und spielen ließ Wir, die Gebildeteu,
die wir schrecklich viel gelesen haben, wir urteilen nicht nach der
Wirkung des Stückcs an sich, wir halten uns an den Namen
Shakespere, und unser Wohlgefallen wird wesentlich bestimmt
durch unser N terarisch - hi st vrisches Interesse. Wir
wissen, iver Shakespere war, oder glauben es zu wissen. Jedes
seiner Stücke ist uns mehr vder minder merkwürdig, allein schon
durch sein Alter, durch die Wichtigkeit seines Verfassers für die
Entivickelilng des Theaters überhaupt. Wir täuschen uns über
die Ursache unseres Wohlgefcilleus, über unsere eigenen Em-
pfindungen. So kvmmt die Merkwürdigkeit einer Kuustlüge zu
stande. Ein Stück gesällt uns ganz ehrlich, begeistert uns sogar
vielleicht, das an sich, d. h. als Kunstwerk v h n e literatur-
geschichtlichen Hintergrund uns ivahrscheinlich abstoßen wiirde,
weil zwischen der Anschauungs- und Empfinduugswelt, aus der
heraus und für die es einst geschaffen wurde, und unserem
eigenen lebendigen Gcdanken- und Gefühlskreis die verbindeuden
sollte ein ganz neuer Eindruck erzielt, etwas verblüffend Neues
aus dem Schillerschen Stiicke herausgeschaffen werden.
Das Ezperiment einer kiinstlichen Modernisierung inißlang,
und das war gnt.
Es war gut, weil auf den Theatern diese unangebrachte
Erneuerungssucht bereits zu einein Ilbel geworden ist, dem mau
entgegentreten sollte.
Man hat es hier anf den ersten Blick lediglich mit einer
Stilwidrigkeit zu thuu. Es steckt aber mehr dahinter, nämtich
eine Machtfrage zwischen dem lebendigen darstellenden Schau-
spieler und dem toten Dichter, vder allgemeiner gesagt, zwischen
n n sere r Geist- und Empfindungswelt und der des Schöpfers.
Ein namhafter Schauspieler und Bühnenleiter sprach sich
einmal mir gegenüber belehrend über diese Frage aus. Mitter-
wurzer hatte uns den „Tell" vorgespielt — „genial" natürlich.
Jch äußerte uun die Meinung, wenn Schiller diesen Telt
sähe, niüßte er sich wohl einige Zeit besinnen, ob das eigentlich
sein Tell sei, wie er ihn sich schöpferisch gedacht, wie
er ihn wollte. Das mag sein, wurde mir erwidert,
aber ist es nicht gerade das Grvßartige dieses Genies,
daß er einen durch und dnrch originellen Tell schasst? Er
spielt Jhnen den Tell sechsmal hiutereinander, und immer ists
ein anderer, immer nen, immer verblüffend. Jch hielt dem
entgegen, es komme doch nicht darauf an, stets einen möglichst
eigenartigen, nie gesehenen Telt vor Augen zu stelleu, sondern
dem Dichter nachstrebend zu schaffen. Die höchste küust-
lerische That wäre doch nicht, einen Tell vou Mitterwurzers
Gnaden zu gcstalten, sondern den von Schillers Gnaden. Das
ließ man mir aber nicht gelten. Jn der Theorie höre sich das
ganz schön an, die Praxis der Bühne aber verlange etwas an-
deres. Sei es denn nicht wünscheuswert, daß uns die Ge-
stalten unserer Dichter durch die originelle Auffassung des dar-
stellenden Künstlers immer wieder interessant gemacht nnd mensch-
lich näher gebracht tvürden, indem man sie mit „moderner Em-
pfindung" beseelte? Das Publikum verlange dies auch. Es
gehe doch nicht ins Theater, um Schillers „Tell" wieder und
wieder zu sehen — es wolle Mitterwurzer sehen, oder sonst
eineu berühmten Künstler. Wie ivolle aber einer auf Berühmt-
heit Anspruch machcn, wenn er nicht eiu „ganzer Kerl" sei, der
aus dem alten Stück etwas Neues heraushole.
Da ist etwas Wahres daran. Es fragt sich aber nur, was
von Kunst wegen dazu zu sagen ist. Das „Publikum" hat
das deutsche Theater nicht geschaffen, sondern die deutsche Kunst.
Die dentsche Literatur ist groß gewordcn nicht „aus Riicksicht auf
das Publikum", sondern ohne Rücksicht darauf. Deshalb ist
es keine ernste Frage: was wir höher anzuschlagen haben, die
Befriedigung der flüchtigen Tagesneugier des gewöhnlichen
Theaterbesuchers, oder die Erhaltung der echten dichterischen
Auffassung, die in den anerkannten Werken unseres Bühnen-
schnfttums niedergelegt ist.
Nun ist zunächst eines nicht zu übersehen. Theaterstücke
haben wie die Bücher ihre Schicksale. Alles Jrdische ist ver-
gänglich. Auch die Dichterwerke sterben. Das ewige Leben ist
nur sehr wenigen Geisteserzeugnissen geschenkt. Ein Kunstwerk
lebt genau so lange, wie es mit uns lebt, und wir mit ihm.
Es wirkt auf uns um so lebendiger, je enger die Gemeinschaft
der Empfindungen ist, die von dem Dichter ausgingen und noch
ausgehen und unseren eigenen, mit unserem Fleisch und
Blut, uusereu Gedanken, unserer Erziehung zusammenhängenden
Einpfinduugen. Nun giebt es Schöpsungen, in welchen so vicl
Ewig-Menschliches, llnsterblich-Wahres niedergelegt ist, daß sie
dadurch selbst allem Ermessen nach unsterblich sind. Aber deren
besitzt jedes Vvlk, wenn es überhaupt damit begnadet wurde,
eine, zwei, vielleicht drei. Wir denken z. B. an „Faust". Weit-
aus das meiste, was wir gemeinhin „klassisch" nennen, wird
durch keine Kunst, nicht durch deu kühnsten Schanspicler, nicht
dnrch elektrische Ströme am Leben erhalten werden, worunter
wir, wie gesagt, das Mitleben nnseres Jchs, das Aufgehen
unserer eigenen Gedanken- und Einpfindungswelt in der des
Dichters verstehen. Wir belügen uns selbst. wenn wir uns
sagen, Schillers „Kabale nnd Liebe", vder gar seine „Räuber"
könnten aus uns ebenso oder annähernd so wirken, wie auf die
Menschen, die vor mehr als hundert Jahreu sich an diesen Stücken
begeisterten. Man frage sich doch einmal genau, was >vir bei
einer Aiifführung etwa des „Kaufmanns von Venedig" eigent-
lich empfind en? Mit diesem Stück aus dem 16. Jahr-
hundert hat die Schanspielkunst das Mögliche und Unmögliche
gethan. Einen „großartigen" Shylock zu spielen, ist ja der
Ehrgeiz jedes Charakterdarstellers. Man hat bald ein blutiges
Schanerstück, bald ein Lustspiel, bald eine übcrmütige Pvsse,
bald ein Mischmasch aus allem daraus gemacht. Aber wie es
auch dargestellt wird: genießen wir dabei wirklich eine echte,
rechte, unser ganzes Gefühl beherrschende Empfindung, leben
wir geistig mit dem Dichter? Alle Schulgelehrten werden ent-
nistet sagen: wie kann man so etwas über Shakespere schreiben,
über unsereu Shakespere, über den größten Dramaliker aller
Zeiten, den unsterblichsten aller Dichter! Gemach, muten wir
unserer Phantasie doch nur eine Kleinigkeit zu, einen Katzen-
sprung. Stellen wir uns einmal vor, wir wüßten gar nichts
von Shakespere — es gibt ja Millionen, die thatsächlich nichts
vou ihm wissen — und denkeu ivir weiter, ein uns noch unbe-
kanntes Stück, also eine Novität, betitelt der „Kaufmann von
Venedig", würde vor uns aufgeführt — ivie würde das Stück
auf uns wirken?! Wir würden einfach an dem Verstand des
Direktors zweifeln, der uns eiue solche blutrünstige Phantasie-
geburt zuzumuten den Mut hätte. Uud dennoch sind ivir
darüber einig: wenn dieses Stück ein Kuiistwerk ist, muß es
a ls svlches aus uns wirken, ob nun der Bersasser Shakespere
heißt oder Sndermann, Meier vder Müller. Wollen wir heute
urteilen, wie dieses S t ü ck a l s solches auf das Volk ivirkt,
so müssen wir uns unter die Galeriebesucher mischen, ivelchen
der Verfasser als solcher gleichgiltig ist. Man wird da finden,
daß die Leutchen, die aus etwas feinerem Stoffe sind, kühl
bleiben, oder aber sich abgestoßen fühlen. Das Stück bleibt ihnen
fremd und deshalb ilnsympathisch. dlnders freilich die Lcute
aus rohem Stosf. Der Metzgergeselle hat ein großes Gaudium
an der Prellerei des rachgierigen Juden. Jn i h m lebt eben
noch ein Teil der derben Empsindungswelt der Meuscheu, zu
deren Vergnügen vor rund dreihundert Jahreu Shakespere
seine Komödie verfaßte und spielen ließ Wir, die Gebildeteu,
die wir schrecklich viel gelesen haben, wir urteilen nicht nach der
Wirkung des Stückcs an sich, wir halten uns an den Namen
Shakespere, und unser Wohlgefallen wird wesentlich bestimmt
durch unser N terarisch - hi st vrisches Interesse. Wir
wissen, iver Shakespere war, oder glauben es zu wissen. Jedes
seiner Stücke ist uns mehr vder minder merkwürdig, allein schon
durch sein Alter, durch die Wichtigkeit seines Verfassers für die
Entivickelilng des Theaters überhaupt. Wir täuschen uns über
die Ursache unseres Wohlgefcilleus, über unsere eigenen Em-
pfindungen. So kvmmt die Merkwürdigkeit einer Kuustlüge zu
stande. Ein Stück gesällt uns ganz ehrlich, begeistert uns sogar
vielleicht, das an sich, d. h. als Kunstwerk v h n e literatur-
geschichtlichen Hintergrund uns ivahrscheinlich abstoßen wiirde,
weil zwischen der Anschauungs- und Empfinduugswelt, aus der
heraus und für die es einst geschaffen wurde, und unserem
eigenen lebendigen Gcdanken- und Gefühlskreis die verbindeuden