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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

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Heft 14
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Bartels, Adolf: Geschichtliche Stoffe, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0219

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Lvveites Nprilbekt rsss.

Gelckicbtltclie Ltotke.

lMALAfie geschichtlichen Stoffe sind irr der Gegen-
wart nicht mehr fonderlich beliebt. Es ist
sogar eine Theorie ausgekommeu, die sie ans
° ^ mancherlei Grnnden verwirst. Nnr was

der Dichter mit eigenen Augen gesehen nnd an sich er-
lebt hat, heißt es, kann er mit derjenigen Unmittelbar-
keit nnd Kraft gestalten, welche die Knnst verlangt. Er
nehme also, lautet dann die Forderung, seine Stoffe aus
der Gegenwart und bringe die sie bewegenden Fragen
durch seine Darstellnng der Lösung näher. Man glanbe
jedoch nicht, daß es vorzugsweise diese Theorie ist, die
die Mehrzahl der Dichter von der Behandlnng geschicht-
licher Stoffe abschreckt. Sie, oder richtiger, die beiden
sie verwendenden Gattnngen der Dichtung, das historische
Drama und der historische Roman, sind anßer Mode-
gekommen, es lassen sich mit ihnen keine Erfolge mehr
erringen — und sür den Durchschnitt der Dichter nnd
Schriststeller ist ja bekanntlich der Erfolg allein maß-
gebend. Moderne Stoffe, moderner Gehalt, moderne
Form lantet das Schlagwort; daß sich diese drei Dinge
anch mit geschichtlichen Stoffen sehr wohl vertragen,
leugnet man, weil der Beweis neuerdings nicht wieder
erbracht ist. Unsere modernen Talente haben leider
immer jenes Premikrenpublikum im Auge, das das
Moderne in den modischen Phrasen, Parfüms, Sen-
sationskonflikten (vnlgo Skandalen) und neuesten Pariser
Toiletten sncht und findet, und das will auf der Bühne
wie im Bnch allerdings nur die Menschen und Dinge
vom Tage sehen. Bei den bedeutenderen Dichtern ist
die Stoffwahl nun freilich nicht durch den Modegeschmack

bedingt, schon, weil sie bei ihnen nicht willkürlich ist,
sondern mit dem Jnnersten ihrer Natur auss engste zu-
sammenhüngt. Wenn anch sie meistens die geschichtlichen
Stoffe fliehcn, oder vielmehr, wenn sich ihnen keiner
mit unwiderstehlicher Gewalt ausdrängt, so liegt das
vor allem daran, daß sie mit Geist nnd Herz von den
großen sozialen Kämpfen der Zeit zn sehr in Anspruch
genommen sind — was ihnen als Menschen jedenfalls
Ehre macht. Znm Teil sind sie wirklich im Bann jener
Gegenwarts-Theorie, nicht selten aber hält sie anch ihre
eigentümliche, man könnte sagen, partielle Begabung
vom Geschichtlichen fern, die sie, soviel wir wenigstens
bis jetzt fehen, wesentlich auf das einfeitige Schanen
und Nachgestalten der Wirklichkeit weist und das Eni-
porftreben zu einer Kunst großen Stils, wie es für die
Dichter nnferes klaffifchen Zeitalters charakteriftisch war,
ausschließt. Selbst den größten unserer modernen
Dichter hat man nicht ganz ohne Berechtigung einen
„Winkelpoeten", einen genialen freilich, genannt. Daß
aber die gescknchtlichen Stoffe nnvermeidlich sind, be-
weist auch dieser Dichter; ohne Zweifel sind die
„Weber", so sehr sich gewisse Richtnngen bestreben, sie
als Gegenwarts-, ja, als Tendenzstück erscheinen zn
lasfen, streng genommen doch weiter nichts als ein histo-
risches Drama, und daß selbst Werke, bei denen als
Zeitangabe „die Gegenwart" auf dem Theaterzettel
steht, und die die Masse für hochmodern hält, dem Ge-
halt nach geschichtlich sind, zeigt n. a. Sudermanns
„Heimat", die mit ihrer Emanzipation des Fleisches
u. s. w. in die Zeit des jungen Deutschlands verlegt

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