der Gegenwart. Teilt man den dichterischen Prozeß in
drei, natürlich nie bestimmt von einander abzugrenzenden
Abschnitte: Konzeption, Durchdringung des Stoffs, Prm
dnktion, so sind das erste und das letzte Stadium bei
allen Stosien jedenfalls ganz gleicher Natur, in der
Hauptsache nnbewnßte oder doch nicht vollbewußte
Thätigkeit. Nnr beim mittleren/in dem meist alles be-
wußt vorgehp sind Unterschiede, indeni die Dnrchdring-
ung^eiues modernen Stoffs oft wenig Zeit und Mühe
in Ansprnch nimmt, da die nötige Erfahrnng vorher
gewonnen sein kann, während nicht gut anznnehmen
ist, daß sich ein Dichter detailliertes geschichtliches Wifsen
auf Vorrat anlege. Hat der Dichter seinen geschicht-
lichen Stoff völlig durchdrungen, so wird die Produktion,
das eigentliche Schaffen, in ganz so clcmentarer Weise
eintreten, wie bei anderen Vorwürfen. Die in der
Anschannng des Dichters erwachsenen Gestalten wollen
leben nnd drängen znm Licht.
Und nnn ist die Frage, wie der Dichter seinem
geschichtlichen Stoffe gegenüber steht, auch leichter zn
beantworten. Daß er willkürlich an ihm ändert, ist zn-
nächst fast völlig ausgeschlossen. Das köunte er nur in
dem Falle thnn, wenn sich ihm mit unbedingter Sicher-
heit die Wahrnehmung ergäbe, daß seine Quellen, sei
es, aus welchem Beweggrnnde, das Bild seines Helden,
seiner Menschen fälschten,; auch dann ivürde er aber
noch die überlieferten Thatsachen respektieren und nnr
an den Motiven ändern, wie das ja selbst dem Historiker
erlaubt ift. Ebenfowenig wie er die Thatsachen verändert,
wird er aber anch neue Thatsachen hinzuerfinden, wenn
nicht eben der Stoff nnzweifelhaft ausznfüllende Lücken
aufweist. Jm allgemeinen wird sich der Dichter mög-
lichst eng an die wirkliche Geschichte anschließen, selbst
die geringste Einzelheit, jedes überlieferte Wort feinem
Bilde einznfügen versuchen, und er ist kein Dichter,
wenn ihm das nicht in der richtigen Weise ohne Ge-
waltsamkeit gelingt. Die dichterische Phantasie ist nicht
so arm, das dichterische Kombinationsvermögen nicht so
schwach, daß sie vor irgend einer überlieferten That-
sache halt machen müßten, anch gilt es nach unsern
Begriffen von Kunst ja nicht, Jdeale hinzustellen, die
doch in gewisser Beziehnng Abftraktionen sind, sondern
wirkliche Menschen, und die menschliche Natnr ist weit
genug, daß anch Gegensätze in ihr Platz finden nnd sich
auflösen. Kurz, für die Dichtung ans historischen
Stoffen ist so gnt wie für jede andere die Respektierung
der gegebenen, hier also der hinreichend klar überlieferten
Verhältnifse geboten, es soll, wie ich mich in dem schon
genannten Aufsatz für den Kunstwart ausdrückte, „alles
an seinen richtigen Platz kommen", damit ein richtiges
Weltbild entsteht. Aber freilich foll auch der Nachdichter
der Geschichte, eiu jeder Dichter, mit eigenen Angen
sehen, und ferner hat auch er auf die Natnr der Dar-
^—
stellungsmittel und der Kunstformen Rücksicht zu
nehmen.
Eine willkürliche Veränderung des geschichtlichen
Stoffes gestattet sich also nicht, aber wohl kann in der
Anschauung des Dichters eine solche nach nnd uach nn-
bewußt vor sich gehen, und die ist dann freilich be-
rechtigt, selbst wenn das Ergebnis der Umbildnng eine
nicht mehr der geschichtlichen Überliefernng entsprechende
Darstellung sein sollte. Lieber eine freie historische
Phantasie, als daß der Dichter sich selbst verleng-
net, den Stoff nicht mit eigenem Geiste durchdringt!
Aber der wahre Dichter kann ja gar nicht anders. Die
falsche, schwächliche Auffasfung der Antike dnrch die
französischen Klassiker hat manchen Stoff geradezn vcr-
nichtet, aber dennoch verdamme ich sie nicht; es war
keine Willkür bei ihrer Behandlung, und wenigstcns
können wir ihre Werke heute zur Charakteristik des
französischen Geistes ihrer Epoche benützen. Gerade die-
jenigen ihrer Werke jedoch haben heute noch die meiste
Lebenskraft, in Ivelchen der meiste geschichtliche Geist
lebt: einige, die Römerstoffe behandelten, welche den
Franzosen lagen, von Racine der „Britannikus" z. B.
— ein Beweis für die Richtigkeit meiner Anfchauungen!
Shakespere seinerseits thut, wenn er nnr die nötigen
Quellen zur Verfügnng hat, der Geschichte kaum je Ge-
walt an (von seinen Anachronismen foll man nur ja
kein Wesen machen!), nnd seine besten historischen
Dramen werdcn etvige Muster sein. Leichtsinniger,
scheinbar wenigstens, verfnhren nnsere deutschen Klassiker
mit den geschichtlichen Stoffen, aber gerade bei ihnen
trat vielfach die allmähliche unbewußte Umbilduug ein
(vgl. Schillers „Don Carlos"), und so entstanden Werke,
die man zwar, wenn man sie nach dem strengen Maß-
stab der historischen Tragödie Shakesperes, aber anch
einiger Neuerer, mißt, tadeln, als freie menschliche
Charaktergemülde anf hiftorischer Grnndlage aber doch
gelten lafsen muß. Zu Schillers meisten Dramen kaun
man sich genan wie zn der französischen klasfischen Tra-
gödie stellen, nur daß Schiller ein unendlich hervor-
ragenderer Geist war als die Corneille und Racine.
Aber seine Werke werden aus dem nämlichen Grunde
veralten wie die dieser Dichter, wenn auch nicht sv
schnell. Eine eigentümliche Stellung nehmen Goethes
hierhergehörende Werke ein, „Götz" nnd „Egmont".
Sie sind dnrchweg echt geschichtlich im Detail, ja, zum
größten Teil auch in der Charakteristik, nnr in der
Handlung ist viel Willkürliches, und das erklärt fich
darans, daß Goethe kein Dramatiker Ivar, daß er auch
in feinen Dramen lyrische Stimmungszivecke verfolgtc,
wie das der Schluß beider Stücke, den man „operu-
haft" aber doch noch nicht zu nennen braucht, angen-
scheinlich darthut. Veralten werden diese Werke schwer-
lich, dazu ist ihr dichterischer Reichtum zu groß, aber
22b
drei, natürlich nie bestimmt von einander abzugrenzenden
Abschnitte: Konzeption, Durchdringung des Stoffs, Prm
dnktion, so sind das erste und das letzte Stadium bei
allen Stosien jedenfalls ganz gleicher Natur, in der
Hauptsache nnbewnßte oder doch nicht vollbewußte
Thätigkeit. Nnr beim mittleren/in dem meist alles be-
wußt vorgehp sind Unterschiede, indeni die Dnrchdring-
ung^eiues modernen Stoffs oft wenig Zeit und Mühe
in Ansprnch nimmt, da die nötige Erfahrnng vorher
gewonnen sein kann, während nicht gut anznnehmen
ist, daß sich ein Dichter detailliertes geschichtliches Wifsen
auf Vorrat anlege. Hat der Dichter seinen geschicht-
lichen Stoff völlig durchdrungen, so wird die Produktion,
das eigentliche Schaffen, in ganz so clcmentarer Weise
eintreten, wie bei anderen Vorwürfen. Die in der
Anschannng des Dichters erwachsenen Gestalten wollen
leben nnd drängen znm Licht.
Und nnn ist die Frage, wie der Dichter seinem
geschichtlichen Stoffe gegenüber steht, auch leichter zn
beantworten. Daß er willkürlich an ihm ändert, ist zn-
nächst fast völlig ausgeschlossen. Das köunte er nur in
dem Falle thnn, wenn sich ihm mit unbedingter Sicher-
heit die Wahrnehmung ergäbe, daß seine Quellen, sei
es, aus welchem Beweggrnnde, das Bild seines Helden,
seiner Menschen fälschten,; auch dann ivürde er aber
noch die überlieferten Thatsachen respektieren und nnr
an den Motiven ändern, wie das ja selbst dem Historiker
erlaubt ift. Ebenfowenig wie er die Thatsachen verändert,
wird er aber anch neue Thatsachen hinzuerfinden, wenn
nicht eben der Stoff nnzweifelhaft ausznfüllende Lücken
aufweist. Jm allgemeinen wird sich der Dichter mög-
lichst eng an die wirkliche Geschichte anschließen, selbst
die geringste Einzelheit, jedes überlieferte Wort feinem
Bilde einznfügen versuchen, und er ist kein Dichter,
wenn ihm das nicht in der richtigen Weise ohne Ge-
waltsamkeit gelingt. Die dichterische Phantasie ist nicht
so arm, das dichterische Kombinationsvermögen nicht so
schwach, daß sie vor irgend einer überlieferten That-
sache halt machen müßten, anch gilt es nach unsern
Begriffen von Kunst ja nicht, Jdeale hinzustellen, die
doch in gewisser Beziehnng Abftraktionen sind, sondern
wirkliche Menschen, und die menschliche Natnr ist weit
genug, daß anch Gegensätze in ihr Platz finden nnd sich
auflösen. Kurz, für die Dichtung ans historischen
Stoffen ist so gnt wie für jede andere die Respektierung
der gegebenen, hier also der hinreichend klar überlieferten
Verhältnifse geboten, es soll, wie ich mich in dem schon
genannten Aufsatz für den Kunstwart ausdrückte, „alles
an seinen richtigen Platz kommen", damit ein richtiges
Weltbild entsteht. Aber freilich foll auch der Nachdichter
der Geschichte, eiu jeder Dichter, mit eigenen Angen
sehen, und ferner hat auch er auf die Natnr der Dar-
^—
stellungsmittel und der Kunstformen Rücksicht zu
nehmen.
Eine willkürliche Veränderung des geschichtlichen
Stoffes gestattet sich also nicht, aber wohl kann in der
Anschauung des Dichters eine solche nach nnd uach nn-
bewußt vor sich gehen, und die ist dann freilich be-
rechtigt, selbst wenn das Ergebnis der Umbildnng eine
nicht mehr der geschichtlichen Überliefernng entsprechende
Darstellung sein sollte. Lieber eine freie historische
Phantasie, als daß der Dichter sich selbst verleng-
net, den Stoff nicht mit eigenem Geiste durchdringt!
Aber der wahre Dichter kann ja gar nicht anders. Die
falsche, schwächliche Auffasfung der Antike dnrch die
französischen Klassiker hat manchen Stoff geradezn vcr-
nichtet, aber dennoch verdamme ich sie nicht; es war
keine Willkür bei ihrer Behandlung, und wenigstcns
können wir ihre Werke heute zur Charakteristik des
französischen Geistes ihrer Epoche benützen. Gerade die-
jenigen ihrer Werke jedoch haben heute noch die meiste
Lebenskraft, in Ivelchen der meiste geschichtliche Geist
lebt: einige, die Römerstoffe behandelten, welche den
Franzosen lagen, von Racine der „Britannikus" z. B.
— ein Beweis für die Richtigkeit meiner Anfchauungen!
Shakespere seinerseits thut, wenn er nnr die nötigen
Quellen zur Verfügnng hat, der Geschichte kaum je Ge-
walt an (von seinen Anachronismen foll man nur ja
kein Wesen machen!), nnd seine besten historischen
Dramen werdcn etvige Muster sein. Leichtsinniger,
scheinbar wenigstens, verfnhren nnsere deutschen Klassiker
mit den geschichtlichen Stoffen, aber gerade bei ihnen
trat vielfach die allmähliche unbewußte Umbilduug ein
(vgl. Schillers „Don Carlos"), und so entstanden Werke,
die man zwar, wenn man sie nach dem strengen Maß-
stab der historischen Tragödie Shakesperes, aber anch
einiger Neuerer, mißt, tadeln, als freie menschliche
Charaktergemülde anf hiftorischer Grnndlage aber doch
gelten lafsen muß. Zu Schillers meisten Dramen kaun
man sich genan wie zn der französischen klasfischen Tra-
gödie stellen, nur daß Schiller ein unendlich hervor-
ragenderer Geist war als die Corneille und Racine.
Aber seine Werke werden aus dem nämlichen Grunde
veralten wie die dieser Dichter, wenn auch nicht sv
schnell. Eine eigentümliche Stellung nehmen Goethes
hierhergehörende Werke ein, „Götz" nnd „Egmont".
Sie sind dnrchweg echt geschichtlich im Detail, ja, zum
größten Teil auch in der Charakteristik, nnr in der
Handlung ist viel Willkürliches, und das erklärt fich
darans, daß Goethe kein Dramatiker Ivar, daß er auch
in feinen Dramen lyrische Stimmungszivecke verfolgtc,
wie das der Schluß beider Stücke, den man „operu-
haft" aber doch noch nicht zu nennen braucht, angen-
scheinlich darthut. Veralten werden diese Werke schwer-
lich, dazu ist ihr dichterischer Reichtum zu groß, aber
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