dem Kern der Handlung organisch nicht verwachsenes Beiwerk,
und so sah man sich enttäuscht, sofern man in Kirchbachs Drama
einen Vernichtungskampf des Kapitalismus — vertreten durch
die Goldgier der Spanier — gegen den kommnniftischen Staat
der Jnkas envartet haben sollte. Denn nicht gegen diesen Staat
als solchen richtet sich der Kampf der Horden Pizarros, sondern
lediglich gegen seine Neichtümer, die dem Eindringling aller-
dings durch die Nnhänfnng in großen Magazinen und Schatz-
kammern besonders leicht zugänglich waren. So trifft denn auch
der Titel des Dramas: Knltnrdrama nicht zu; denn hier kämpft
nur Macht gegen Macht. Da sich der Verfasfer aber streng an
die geschichtliche llberliefernng hielt, die ihm einige wirkungs-
volle Szenen im llrstoff darbot, gestaltet sich dieser Kampf sehr
ermüdend; er zeigt auf der Seite der Spanier Roheit, heuch-
lerischen Fanatismns, Treulosigkeit, auf der des Jnkakönigs
Atahuallpa Mangel an Diplomatie, Thatenlosigkeit und stnmpfe
Ergebung, ein Bild, das des fortreißenden dramatischen Lebens
entbehrt und das vom Verfasser nur durch breite Schildernngen
des Milieus nnd vor allem dnrch lyrische Behandlung anzieh-
ender gemacht wird. Ergibt sich noch, daß das Ende Atahuallpas
nnd seines Reiches, das übrigens stark in den Hintergrund
tritt, nicht eine Folge seiner Gewaltthat gegenüber dem echt-
bürtigen Bruder Huaskar ist, sondern lediglich ein Mord der
spanischen Eindringlinge, so erscheinen die organischen Grund-
lagen des Ganzen recht locker nnd leicht gefügt. Die Charak-
teristik bewegt sich, mit Ausnahme der einfachen TyPen der
Spanier, in unsicheren Geleisen; Kirchbach versteht es nichr,
die Charaktere rund und plastisch aus der Situation ,heraus-
lreten zu lassen, noch ihrer Sprache ein individuelles Gepräge
zu verleihen. An vielen Stellen spricht die pathetisch-rhetorische
Art des Verfassers so deutlich durch den Mund seiner Figuren,
daß geradezu die Jllusion zerstört wird. Da sich dennoch in
Episoden ein starkes poetisches Talent beknndet, kann man nnr
bedauern, daß Kirchbach dem interessanten Vorwurf nicht mehr
vertiefende und den Kern erschöpfende Schaffenskraft gewidmet
und statt dessen zu bereitwillig auf die Wirkung theatralischer
Effekte und auf den Reiz des fremdartigen Stvffes gerechnet hat,
die ja bei einem freundlich gestimmten Publikum ihre Wirkung
nicht versagten.
L. Lier.
Kieler Bries.
Jn Kiel ward am Himmelfahrtstage im Verein „Freie
Volksbühne" „Digab der Narr", Komödie in 3 Akten von
Ludwig Jacobowski" sBerlin 1895, Berlag von Kühling und
Güttner) mit gutem Erfolge aufgeführt. Diese erste Äufführung
verriet neben den hohen Vorzügen des Stückes auch deutlich
seine Mängel. Solche treten besonders in den beiden ersten
großen Szenen hervor, wo die Handlung zu sehr in die Breite
zerfließt. Aber der Hauptvorgang nnd der Hauptcharakter
sind durchaus bühnengerecht nnd wirknngsvoll. So fremdartig
die Szenerie ist — es isteine Oase in der Wüste —, so allgemein
verständlich und fesselnd ist,der Stoff. Ein Araberscheikh hat
zwei Söhne von einer Araberin, die in langen Friedenszeiten
verweichlicht sind, und einen Sohn, Digab, von einer weißen
Frau. Diesen setzt er vor jenen zurück, und so spielt Digab,
der eigentlich ein Held an Kraft und Geist ist, um sein stürmisch
Herz zu bezwingen und seinen Unmut zu verbergen, den Narren.
Die Schwäche der ersten Hülfte des Stückes besteht nun darin,
daß der Hörer nicht völlig begreift, warum der Scheikh den
Sohn mißachtet, warum dieser Narr wird, und daß er von
seiner Heldenkraft nnr hört aus Berichten seines Vetters, den
er einst ans Löwenklauen befreit hat. Wie Digab nun durch
seinen Witz alle überragt, wje er in der Gefahr der einzige
Tapfere des Stammes ist, wie seine feigen Brüder sich vor
^-
ihm beugen müssen und der Vater ihn zu seinem Nachfolger
ernennt: alles das spielt sich so lebendig dramatisch vor uns
ab, daß wir in Spannung lauschen und die feine Kunst des
jungen Dichters bewnndern müssen.
Wir brauchen in der orientalischen Umkleidung keinen be-
sonderen persönlichen Kern zu suchen: es ist die allgemeine
Jdee, die hier verkörpert ist, Vvn der sieghaften Tüchtigkeit, die
alle Mißachtung, allen Haß und Neid überwindet und die
Hoffärtigen demütigt. Wie der Schnee im Winter den Zweig
niederdrückt und wie dieser im Frühling, wenn das Eis ge-
schmolzen ist, wieder emporschnellt, so kann auch Demütigung
wohl beugen, aber nicht brechen, nnd so muß das Echte und
Wahre immer über das Gemeine und Falsche triumphieren. —
Bei größerer Konzentrierung der Handlung und bei größerer
Vertiesnng der Motivierung in den ersten Akten würde die Ko-
mödie noch mehr gewinnen. Dann dürfte bei slotter Auffüh-
rung und bei reicher Ausstattnng — beides ließ in Kiel zu
wünschen übrig — der Erfolg ein noch größerer, auch bei
Kuustverständigeu, seiu, als er cs schon bei der ersten noch un-
vollkommenen Aufführung vor einem freilich sehr dankbaren
Publikum war. A. B.
* Melcbe HronzeMonen erzwingt dte Kübne
vou dem Verlaugen nach Naturwahrheit? Man könnte als
eine Antwort aus diese Frage den Aufsatz bezeichnen, den Karl
W erner kürzlich unter dem Titel „Die Wahrheit auf der
Bühne" im Anschluß an eine vor zwei Jahren erschienene
Schrift Hans Sittenbergs in der „Allgemeinen Zeitmrg"
veröffentlicht hat. Wir geben ihn wegen seiner übersichtlichen
Zusammenstellnng der betreffenden Momente hier in seinem
Hauptteile wieder.
Sittenberger „legt sich vor allem die Frage vor, ob die Bühne, die
bekanntlich ihre eigenen Gesetze hat, wirklich mit der vollen
Lebenswahrheit übereinstimmt und demnach schon ihrem Wesen
nach geeiguet ist, das oberste Wahrheitsprinzip der Naturalisten
zu uuterstützen? Er führt uns ins Schauspielhaus. Nach Auf-
rollung des Vorhangs zeigt sich uns ein Zimmer. Aber merk-
werkwürdig, dies Zimmer hat nur drei Wände, die vierte fehlt,
sonst könnten wir eben nicht hineinsehen. Jst das der Wirk-
lichkeit gemäß? Es müssen dieses Mangels der vierten Wand
halber die Möbel derartig geordnet stehen, daß sie uns den
Schein der natürlichen Anordnung erwecken. Die Bühne stellt
aber nur dar und ist nicht das, was sie darstellt. Am auf-
fallendsten ist der Widersprnch init der Wirklichkeit, Ivenn das
Theater einen Platz oder eine Gasse oder einen Garten mit
Aussicht auf eiue dahinterliegende Landschaft darstellt. Da muß
nun der Dekorationsmaler mit der Perspektive nachhelfen, also
wieder nur den Schein des Wahren, statt des Wahren selbst
geben-
Nun geht Sittenberger weiter auf die Schauspieler über.
Man denke sich, meint er, »auf eiuer perspektivisch eingerichteten
Bühne ein vollkommen naturgetreues, d. h. nicht perspektivisches
Spiel, wie das von den Naturalisten verlangt uud von einigen
Schauspielern geübt wird. Naturgetreu natürlich nur so weit,
als dies mit Rückficht auf das Fehlen der vierten Wand überhaupt
möglich ist. Derartige natürliche Bewegungen müßten sich von
Parket aus eigentümlich verrenkt nnd verzerrt, mit einem Worte
unnatürlich ausnehmen. -- Der Schauspieler darf auf dem Theater
nicht gehen, wie im gewöhnlichen Leben, sonst würde er für
linkisch und ungeschickt gehalten werden, womit allerdings weder
der patheüsche Theaterschritt der Helden, noch das alberne
Tiippeln der Naiven als das Richtige anzuerkennen ist. Er svll
eben nicht vergessen, daß dieselbe Perspektive, die für den Zu-
schauer bei der Detoration notwendig ist, auch beim Spiele
berücksichtigt werden muß. Das Auge folgt seineu Bewegungen
und so sah man sich enttäuscht, sofern man in Kirchbachs Drama
einen Vernichtungskampf des Kapitalismus — vertreten durch
die Goldgier der Spanier — gegen den kommnniftischen Staat
der Jnkas envartet haben sollte. Denn nicht gegen diesen Staat
als solchen richtet sich der Kampf der Horden Pizarros, sondern
lediglich gegen seine Neichtümer, die dem Eindringling aller-
dings durch die Nnhänfnng in großen Magazinen und Schatz-
kammern besonders leicht zugänglich waren. So trifft denn auch
der Titel des Dramas: Knltnrdrama nicht zu; denn hier kämpft
nur Macht gegen Macht. Da sich der Verfasfer aber streng an
die geschichtliche llberliefernng hielt, die ihm einige wirkungs-
volle Szenen im llrstoff darbot, gestaltet sich dieser Kampf sehr
ermüdend; er zeigt auf der Seite der Spanier Roheit, heuch-
lerischen Fanatismns, Treulosigkeit, auf der des Jnkakönigs
Atahuallpa Mangel an Diplomatie, Thatenlosigkeit und stnmpfe
Ergebung, ein Bild, das des fortreißenden dramatischen Lebens
entbehrt und das vom Verfasser nur durch breite Schildernngen
des Milieus nnd vor allem dnrch lyrische Behandlung anzieh-
ender gemacht wird. Ergibt sich noch, daß das Ende Atahuallpas
nnd seines Reiches, das übrigens stark in den Hintergrund
tritt, nicht eine Folge seiner Gewaltthat gegenüber dem echt-
bürtigen Bruder Huaskar ist, sondern lediglich ein Mord der
spanischen Eindringlinge, so erscheinen die organischen Grund-
lagen des Ganzen recht locker nnd leicht gefügt. Die Charak-
teristik bewegt sich, mit Ausnahme der einfachen TyPen der
Spanier, in unsicheren Geleisen; Kirchbach versteht es nichr,
die Charaktere rund und plastisch aus der Situation ,heraus-
lreten zu lassen, noch ihrer Sprache ein individuelles Gepräge
zu verleihen. An vielen Stellen spricht die pathetisch-rhetorische
Art des Verfassers so deutlich durch den Mund seiner Figuren,
daß geradezu die Jllusion zerstört wird. Da sich dennoch in
Episoden ein starkes poetisches Talent beknndet, kann man nnr
bedauern, daß Kirchbach dem interessanten Vorwurf nicht mehr
vertiefende und den Kern erschöpfende Schaffenskraft gewidmet
und statt dessen zu bereitwillig auf die Wirkung theatralischer
Effekte und auf den Reiz des fremdartigen Stvffes gerechnet hat,
die ja bei einem freundlich gestimmten Publikum ihre Wirkung
nicht versagten.
L. Lier.
Kieler Bries.
Jn Kiel ward am Himmelfahrtstage im Verein „Freie
Volksbühne" „Digab der Narr", Komödie in 3 Akten von
Ludwig Jacobowski" sBerlin 1895, Berlag von Kühling und
Güttner) mit gutem Erfolge aufgeführt. Diese erste Äufführung
verriet neben den hohen Vorzügen des Stückes auch deutlich
seine Mängel. Solche treten besonders in den beiden ersten
großen Szenen hervor, wo die Handlung zu sehr in die Breite
zerfließt. Aber der Hauptvorgang nnd der Hauptcharakter
sind durchaus bühnengerecht nnd wirknngsvoll. So fremdartig
die Szenerie ist — es isteine Oase in der Wüste —, so allgemein
verständlich und fesselnd ist,der Stoff. Ein Araberscheikh hat
zwei Söhne von einer Araberin, die in langen Friedenszeiten
verweichlicht sind, und einen Sohn, Digab, von einer weißen
Frau. Diesen setzt er vor jenen zurück, und so spielt Digab,
der eigentlich ein Held an Kraft und Geist ist, um sein stürmisch
Herz zu bezwingen und seinen Unmut zu verbergen, den Narren.
Die Schwäche der ersten Hülfte des Stückes besteht nun darin,
daß der Hörer nicht völlig begreift, warum der Scheikh den
Sohn mißachtet, warum dieser Narr wird, und daß er von
seiner Heldenkraft nnr hört aus Berichten seines Vetters, den
er einst ans Löwenklauen befreit hat. Wie Digab nun durch
seinen Witz alle überragt, wje er in der Gefahr der einzige
Tapfere des Stammes ist, wie seine feigen Brüder sich vor
^-
ihm beugen müssen und der Vater ihn zu seinem Nachfolger
ernennt: alles das spielt sich so lebendig dramatisch vor uns
ab, daß wir in Spannung lauschen und die feine Kunst des
jungen Dichters bewnndern müssen.
Wir brauchen in der orientalischen Umkleidung keinen be-
sonderen persönlichen Kern zu suchen: es ist die allgemeine
Jdee, die hier verkörpert ist, Vvn der sieghaften Tüchtigkeit, die
alle Mißachtung, allen Haß und Neid überwindet und die
Hoffärtigen demütigt. Wie der Schnee im Winter den Zweig
niederdrückt und wie dieser im Frühling, wenn das Eis ge-
schmolzen ist, wieder emporschnellt, so kann auch Demütigung
wohl beugen, aber nicht brechen, nnd so muß das Echte und
Wahre immer über das Gemeine und Falsche triumphieren. —
Bei größerer Konzentrierung der Handlung und bei größerer
Vertiesnng der Motivierung in den ersten Akten würde die Ko-
mödie noch mehr gewinnen. Dann dürfte bei slotter Auffüh-
rung und bei reicher Ausstattnng — beides ließ in Kiel zu
wünschen übrig — der Erfolg ein noch größerer, auch bei
Kuustverständigeu, seiu, als er cs schon bei der ersten noch un-
vollkommenen Aufführung vor einem freilich sehr dankbaren
Publikum war. A. B.
* Melcbe HronzeMonen erzwingt dte Kübne
vou dem Verlaugen nach Naturwahrheit? Man könnte als
eine Antwort aus diese Frage den Aufsatz bezeichnen, den Karl
W erner kürzlich unter dem Titel „Die Wahrheit auf der
Bühne" im Anschluß an eine vor zwei Jahren erschienene
Schrift Hans Sittenbergs in der „Allgemeinen Zeitmrg"
veröffentlicht hat. Wir geben ihn wegen seiner übersichtlichen
Zusammenstellnng der betreffenden Momente hier in seinem
Hauptteile wieder.
Sittenberger „legt sich vor allem die Frage vor, ob die Bühne, die
bekanntlich ihre eigenen Gesetze hat, wirklich mit der vollen
Lebenswahrheit übereinstimmt und demnach schon ihrem Wesen
nach geeiguet ist, das oberste Wahrheitsprinzip der Naturalisten
zu uuterstützen? Er führt uns ins Schauspielhaus. Nach Auf-
rollung des Vorhangs zeigt sich uns ein Zimmer. Aber merk-
werkwürdig, dies Zimmer hat nur drei Wände, die vierte fehlt,
sonst könnten wir eben nicht hineinsehen. Jst das der Wirk-
lichkeit gemäß? Es müssen dieses Mangels der vierten Wand
halber die Möbel derartig geordnet stehen, daß sie uns den
Schein der natürlichen Anordnung erwecken. Die Bühne stellt
aber nur dar und ist nicht das, was sie darstellt. Am auf-
fallendsten ist der Widersprnch init der Wirklichkeit, Ivenn das
Theater einen Platz oder eine Gasse oder einen Garten mit
Aussicht auf eiue dahinterliegende Landschaft darstellt. Da muß
nun der Dekorationsmaler mit der Perspektive nachhelfen, also
wieder nur den Schein des Wahren, statt des Wahren selbst
geben-
Nun geht Sittenberger weiter auf die Schauspieler über.
Man denke sich, meint er, »auf eiuer perspektivisch eingerichteten
Bühne ein vollkommen naturgetreues, d. h. nicht perspektivisches
Spiel, wie das von den Naturalisten verlangt uud von einigen
Schauspielern geübt wird. Naturgetreu natürlich nur so weit,
als dies mit Rückficht auf das Fehlen der vierten Wand überhaupt
möglich ist. Derartige natürliche Bewegungen müßten sich von
Parket aus eigentümlich verrenkt nnd verzerrt, mit einem Worte
unnatürlich ausnehmen. -- Der Schauspieler darf auf dem Theater
nicht gehen, wie im gewöhnlichen Leben, sonst würde er für
linkisch und ungeschickt gehalten werden, womit allerdings weder
der patheüsche Theaterschritt der Helden, noch das alberne
Tiippeln der Naiven als das Richtige anzuerkennen ist. Er svll
eben nicht vergessen, daß dieselbe Perspektive, die für den Zu-
schauer bei der Detoration notwendig ist, auch beim Spiele
berücksichtigt werden muß. Das Auge folgt seineu Bewegungen