Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

DOI Heft:
Heft 18
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0288

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Tbcatcr.


» Micvtigere Schauspielrlukkübrullgcil.

Berliiier Brief.

Jedes Jahr zum Sommeranfang denkt man, die
Theater legten sich schlafen, nnd jedes Jahr fieht man fich
enttäuscht. Es reißt nicht ab in Berlin. Da kommen die
Sommervögel, wie das Hamburger Karl Schultze-Theater
mit feiner lustigen Tata - Toto-Posse oder ausländifche
Schauspieltruppen, von dcnen wir schon mehrere angezeigt
erhielten - aber auch die ftändigen Theater gehen nur
langsam zur Ruhe, und immer pafsiert es, daß in aller-
letzter Stunde, vielleicht gerade weil er so unbemerkt kommt,
ein Erfolg noch durchschlüpft, dem man die Theaterthore
vor der Nase zuschlägt. Jch meine hier nicht die Aufnahme
der Reinhold Beckerschen Oper „Frauenlob" in das
Repertoire der kgl. Oper — denn dieses Stück ist leider
so unglaublich „cinfach", daß ich es in der Gsneralprobe
nicht über den zweiten Akt aushielt und mich nicht einmal
überzeugen konnte, daß die dankbaren Frauen gar nicht
den Dichter beerdigem Jch meine auch nicht Wendlands
„Alt-Berlin", ein sogenanntes patriotisches Stück, mit
dessen Ausführung das kgl. Schauspielhaus endgiltig jeden
Anspruch aus literarischen Ernst aufgab — ein Stück so
voller dummdreister Naivetät, wie man hört, daß man
den Versasser wohl den cndlich gewonnenen Hausdichter
unscrer schmachvollen kgl. Bühne nannte und meinte, unser
Wildenbruch erscheine wie ein roter Demokrat gegen ihn.
Nein, im Lessin gth e ater, welches nur die Pfingsttage
noch mitnimmt und dann in die Ferien geht, errang ein
Drama, dessen Titel „Drei" und dessen Verfasser Dreyer
heißt, einen so herzlichen und ernsten Erfolg, daß es sich
lohnen wird, mit beginnender Spiclzeit auf dieses Werk
wieder zurückzukommen. Blumenthal muß es nicht erwartet
haben, wie es einst Lautenburg bei der „Jugend" nicht
erwartete, die ebenso vor Thoresschluß gekrönt wurde.
So ist es zn entschuldigen, wenn auch ich unter die Kritiker
gehöre, die den Anschluß verpaßten. Den nicht gerade
neuen „dreieckigen" Jnhalt läßt ja der Titel ahnen, und
als Vuch ist das Drama längst bekannt.

Ein zweites Werk, welches sogar nur versuchsweise
durch die „Freie Bühne" gegeben wurde, aber einen derartigen
Erfolg errang, daß es im Herbst in den Spielplan ües
Deutschen Theaters aufgenommen werden wird, ist Georg
Hirschselds „Die Mütter". Georg Hirschseld, ein junger
Dichter, welcher sich durch vorzügliche novellistische Arbeiten
in der „Neuen deutschen Rundschau" und durch sein in
München aufgeführtes Drama „Zu Hause" bereits bekannt
gemacht hat, tritt hier als ein hervorragendes, modernes
Talent in schildernder Psychologie vor uns. Die „Kunst"
in seinem Werke ist so verblüffend und die Dramatik -
worunter ich die innere Konsequenz verstehe — mit Aus-
nahme des noch in Änderung besindlichen Schlusses so
zwingend, daß wir sür die Zukunft des Autors große
Hossnungen zu hegen im Rechte sind. Vielleicht war es
das innige häusliche Verhältnis zu einer verständnisvollen
Mutter und die Sehnsucht nach unbändiger Freiheit, wie
sie im jungen Herzen leicht keimt, aus deren Motiven er
allein sein großes Drama entwickelte. Er denkt sich einen
jungen Künstler, der in seiner Familie kein Verstündnis
findet: gerade sein Eigenwille ist es, der sich in den Naturen
der Familienmitglieder nun wiederholt, aber durch diese
Vervielfältigung ein Zusammenleben unmöglich macht.

Bei einem Mädchen aus der Fabrik sindet er dieses
natürliche Verständnis. Der Schritt ist schnell gethan, er
verläßt das Haus und zieht zu dem Müdchen, welches zu
Hause arbeitet und ihn Jahre lang in inniger Zuneigung
erhält. Sie sühlt nicht, daß damit Roberts Sehnsucht
nicht gestillt sein kann. Sie glaubt, er arbeite. Aber ihn
befüllt mit der Zeit eine wachsende Sehnsucht wieder nach
der Ordnung der Hüuslichkcit, nach der sorgenden Liebe
der Mutter. Er gesteht es sich nicht ein, bis zu einem
entscheidenden Augenblicke. Er liest eines Morgens, daß
sein Vater gestorben, da bricht ihm die Krast, und er
schreibt an seine versöhnliche Schwester. Das bringt die
die Beziehungen in Fluß, und hier beginnt das Drama.
Der Jnhalt dieses Dramas wickelt sich so selbstverständlich
ab, wie es die Vorgeschichte erfordert: und dies ist der
Beweis seiner Konsequenz. Wie der Funken des Briefes
ins Pulverfaß schlägt, wie Robert von seinem Freunde
sondiert und halb mit, halb wider Willen heimgeholt wird,
wie er sich mit der Familie auseinandersetzt, für die er
verschollen war, und wie seine Marie ihm nacheilt, an
der Ossenbarung über Roberts wahre Sehnsucht zurück-
prallt und gebrochen sich opfert, um ihm das Leben
wiederzugeben — das sind die natürlichen vier Akte. Die
Ausführung ist nicht zu schildern: das Milieu der Skalitzer-
straße, in dem Robert sein Scheinleben sührt, die explosive
Stimmung draußen in der Grünauer Villa, wo man sich
scheinbar von der Tyrannei des verstorbenen Vaters er-
holt, die Charakteristik der herzensechten Tochter des
Proletariats und des Freundes Rols mit seiner grundtiefen
Gemütsehrlichkeit, von den andern zu schweigen - das
sind die Lichter, mit denen dieser aus dem Leben unserer
Zeit empfundene Stoff so herausmodelliert ist, daß nnr
ihn zu greisen meinen. Mskar Bie.

» MicMigcre ScbauspielauMbrungcn.

JnBremen hat AntonRubinsteins geistliche Oper
„Christus" unlängst eine szenische Aufführung erlebt,
nachdem monatelang eine nicht eben vornehm anmutende
Zeitungsreklame großen Stils auf das nahende Licht hin-
gewiesen hatte. Als Unternehmer, Leiter, Regisseure der
Sache haben der Breslauer Theaterdirektor Löwe und
Professor Bulthaupt in Bremen, der Verfasser des „Chri-
stus"-Textes, erstaunlich viel Talent und rührige That-
kraft bekundet. Freilich gehörte dies auch dazu, den schwer
erfüllbaren Lieblingswunsch Rubinsteins zu verwirklichen,
eine seiner sogenannten „geistlichen Opern" endlich einmal
auch in opernmäßiger Leibhaftigkeit dargestellt zu sehen.
Rubinsteins Plan ging allerdings bekanntlich noch ein gut
Stück weiter: ein eigenes „geistliches Theater", als selb-
ständig neben dem „weltlichen" bestehend gedacht, hatte er
im Auge. Wir wollen seine Jdee der geistlichen Oper
nicht auf seine Mißersolge aus dem Gebiete der weltlichen
zurückführen. Das Oratorium, erklärte, wie erinnerlich,
der geniale Pianist, habe ihn zeitlebens mehr oder weniger
kalt gelassen, ja sogar mißgestimmt. „Unwillkürlich er-
saßte mich der Gedanke, sühlte ich, daß Alles, was ich als
Konzert-Oratorien crlebt, viel großartiger, packender, rich-
tiger und wahrer auf der Bühne in Aostürnen und De-

278
 
Annotationen