Lweites Aulibett IS9Z.
20. Dekt.
Derausgeber:
FerdLnmw Nvenarius.
; ^ vierteljäbrlich 2P2 Mark. !
S. Zadrg.
Lrziekung zur Zfreude.
Nueb eiue „Illmsturzvorluge".
nser Jahrhundert hat mehr die Jrrtümer
als die moralischen Quellen der Jrrtümer
weggeschafft. Unser grauer Staar wurde
nicht mit der Staarzange operiert, die ihn aus dem
Auge zieht, sondern nur mit der Lanzette, die ihn
auf den Boden des Auges hinabdrückt. Bei der
kleinsten heftigen Bewegung kann ihn ja der Teufel
wieder oben haben."
Jst es trostreich oder ift es kläglich, daß dieses
Gleichnis nicht nach der großen „llmsturzdebatte" im
Reichstage von s89ö, fondern vor etwa achtzig Jahren
von Jean Paul geschrieben ist? llnd wie kommt
es, daß der weltabgewandte Phantaft, für den wir
Jean Paul nach seinen kaum noch genießbaren Ro-
manungetümen zu halten geneigt sind, in der Erfas-
sung der Kernfrage unserer sozialen Bestrebungen so
unendlich viel weiter geblickt hat, als sast alle unsere
modernen Politiker?
Wie anders, als weil Jean Paul eben ein Dichter
und deshalb ein Kenner des Menschenherzens war,
während unsere Parlamentarier mit verschwindend
wenigen Ausnahmen zwar Zahlen und Paragraphen
kennen, aber keine Ahnung von Seelenkunde, von
der Fähigkeit haben, fich in anderer Empfindungen
hineinzuversetzen.
Sie rechnen, als ob sie Puppen zu regieren
hätten, nicht Wesen mit eigenem Willen und eigenen
Wünfchen: der Paragraph stimmt, die Menschen-
natur muß umkehren!
Wer sich nicht dem Streckbett einer Partei an-
bequemt, wer nicht mehr blindgläubig auf alles das
schwört, was man ihm in der Schule und später in
der Zeitung in klapperigem Magiftertoir als das un-
fehlbar Wahre für der Menschheit Wohl angepriesen,
der fühlt, daß unsere Zustände an allen Ecken ver-
morscht und greisenhast find. Er fühlt es am meisten
an dem trübseligen und verbitterten Fanatismus, mit
dem die Quacksalber von rechts und links der kranken
Gesellschaft ihre Allheilmittel anpreisen; denn Fana-
tismus ist stets das Zeichen von Beschränktheit und
Unkraft, ist der wütende Versuch der Ohnmacht, sich
der dunkel empfundenen Gewalt der Logik und der
Thatfachen gegenüber durchzusetzen.
Und wo nicht der Fanatismus herrscht, da lebt
ein sonnenloser, hoffnungsloser, kleingläubiger Egois-
mus, der den schäbigsten Spatz so krampshast fest in
der Hand hält — weil er verzagt, jemals eine Taube
zu erhaschen und doch auch vom kläglichsten Besitz
nicht lasfen mag —, daß er eines Tages auch noch den
armen Sperling in den Fingern erwürgt haben wird.
Der Kampf für das Bestehende ist zumeist kaum
minder widerwärtig, als der gegen das Bestehende.
Er wird nicht mit der Zuversicht geführt, daß das
Bestehende gut sei, sondern nur in der Furcht, daß
die Zukunft auch nichts Besseres als das Jetzige
bringen könne, daß das eigene Jch aber leicht in dem
verkürzt werden könnte, was es sich gewöhnt hat,
als ihm gebührend zu betrachten.
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20. Dekt.
Derausgeber:
FerdLnmw Nvenarius.
; ^ vierteljäbrlich 2P2 Mark. !
S. Zadrg.
Lrziekung zur Zfreude.
Nueb eiue „Illmsturzvorluge".
nser Jahrhundert hat mehr die Jrrtümer
als die moralischen Quellen der Jrrtümer
weggeschafft. Unser grauer Staar wurde
nicht mit der Staarzange operiert, die ihn aus dem
Auge zieht, sondern nur mit der Lanzette, die ihn
auf den Boden des Auges hinabdrückt. Bei der
kleinsten heftigen Bewegung kann ihn ja der Teufel
wieder oben haben."
Jst es trostreich oder ift es kläglich, daß dieses
Gleichnis nicht nach der großen „llmsturzdebatte" im
Reichstage von s89ö, fondern vor etwa achtzig Jahren
von Jean Paul geschrieben ist? llnd wie kommt
es, daß der weltabgewandte Phantaft, für den wir
Jean Paul nach seinen kaum noch genießbaren Ro-
manungetümen zu halten geneigt sind, in der Erfas-
sung der Kernfrage unserer sozialen Bestrebungen so
unendlich viel weiter geblickt hat, als sast alle unsere
modernen Politiker?
Wie anders, als weil Jean Paul eben ein Dichter
und deshalb ein Kenner des Menschenherzens war,
während unsere Parlamentarier mit verschwindend
wenigen Ausnahmen zwar Zahlen und Paragraphen
kennen, aber keine Ahnung von Seelenkunde, von
der Fähigkeit haben, fich in anderer Empfindungen
hineinzuversetzen.
Sie rechnen, als ob sie Puppen zu regieren
hätten, nicht Wesen mit eigenem Willen und eigenen
Wünfchen: der Paragraph stimmt, die Menschen-
natur muß umkehren!
Wer sich nicht dem Streckbett einer Partei an-
bequemt, wer nicht mehr blindgläubig auf alles das
schwört, was man ihm in der Schule und später in
der Zeitung in klapperigem Magiftertoir als das un-
fehlbar Wahre für der Menschheit Wohl angepriesen,
der fühlt, daß unsere Zustände an allen Ecken ver-
morscht und greisenhast find. Er fühlt es am meisten
an dem trübseligen und verbitterten Fanatismus, mit
dem die Quacksalber von rechts und links der kranken
Gesellschaft ihre Allheilmittel anpreisen; denn Fana-
tismus ist stets das Zeichen von Beschränktheit und
Unkraft, ist der wütende Versuch der Ohnmacht, sich
der dunkel empfundenen Gewalt der Logik und der
Thatfachen gegenüber durchzusetzen.
Und wo nicht der Fanatismus herrscht, da lebt
ein sonnenloser, hoffnungsloser, kleingläubiger Egois-
mus, der den schäbigsten Spatz so krampshast fest in
der Hand hält — weil er verzagt, jemals eine Taube
zu erhaschen und doch auch vom kläglichsten Besitz
nicht lasfen mag —, daß er eines Tages auch noch den
armen Sperling in den Fingern erwürgt haben wird.
Der Kampf für das Bestehende ist zumeist kaum
minder widerwärtig, als der gegen das Bestehende.
Er wird nicht mit der Zuversicht geführt, daß das
Bestehende gut sei, sondern nur in der Furcht, daß
die Zukunft auch nichts Besseres als das Jetzige
bringen könne, daß das eigene Jch aber leicht in dem
verkürzt werden könnte, was es sich gewöhnt hat,
als ihm gebührend zu betrachten.
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