Lweites Augustbett ISSZ.
22. Dett.
Lrscheint
Derausgeber:
zferdinand Nvenarlus.
Vierteljährlich 2>/e Mark.
S. Aabrg.
Wexvusste Lelbsttüusekung und Ikunst
^f^^^ie Frage. „was ist Kunst?" gehört bekannt-
lich zu denen, so am gebildeten Stammtisch
zu stellen gesährlich ist. Jst's doch ganz selbst-
verständlich, daß man im Kreise der Stammtischsassen
über diese Dinge sich klar sein muß, da man doch
in keinem Konzertsaal, keinem Theater, keiner Aus-
stellung irgendwelche Schwierigkeiten gefunden hat,
ein maßgebliches Urteil auszusprechen. Will also der
Fragesteller die erlauchten Anwesenden hänseln? Es
scheint, man nimmt das an, denn allerdings — man
vermeidet auf die Frage einzugehen. Und doch könnte
man das eigentlich thun, ohne sich sehr schämen zu
müssen, wenn man über seine Befähigung zu einer
klaren Antwort überraschende Entdeckungen machte.
Unsere Leser wüßten, hätten sie's nicht vorher schon
gewußt, allein aus dem Carstanjenschen Aussatze über
das Schöne, daß die sich von amtswegen mit dem
Denken beschäftigenden Köpfe seit einigen tausend
Jahren vergeblich die Nüsse zu knacken versucht haben,
die hier unter scheinbaren Selbstverständlichkeiten ver-
steckt sind. Was ist Kunst? Unser Empfinden ant-
wortet aus die Frage ganz prompt, aber mit durch-
dachten Worten ist der Sache bei näherem Zusehen
ganz unangenehm schwer beizukommen, wenn man
nicht sröhlich und unbekümmert auf irgend einen meta-
physischen Meister schwört, der „mit Worten ein System
bereitet" hat ^— mit Worten.
Konrad Lange, dessen Gedanken über künstlerische
Erziehung der Jugend uns vor einiger Zeit des län-
gern beschäftigt haben, hat seine Antrittsvorlesung
bei Einführung ins Tübinger Prosessorat benutzt,
um Gedanken, die er sich über die Antwort aus jene
Frage gemacht hat, der Oeffentlichkeit zu übergeben.*
Wir wollen im Folgenden von ihnen sprechen; sie
verdienen das nicht nur, ihre Wichtigkeit verlangt es.
Eine erste, vorläufige Antwort liegt ja klar:
Kunst ist, als Können, eine durch Uebung erworbene
Fähigkeit und zwar eine, die andern einen Genuß
verschafft, der ohne praktische Jnteressen ist. Aber
die Definition ist nicht eng genug; sie paßt auch z. B.
aus die Zirkus„künste" und das Ballet, die mit der
hohen Kunst gleich zu bewerten das dunkle aber starke
unmittelbare Gesühl uns verwehrt. Vergleichen
wir also einmal ein Kunstwerk und ein „Artisten-
werk" mit einander: beispielsweis die Florentiner
Marmorgruppe der Ringer und eine Gruppe oon
lebendigen Ringern. Warum würde jeder fein ent-
wickelte Mensch die Marmorgruppe mit viel höherem
Lustgesühle betrachten, als die lebendige, selbst wenn
diese letztere in allen Beziehungen jener entspräche?
Die eine i st lebendig, die andere scheint so — sollte
eben darin der besondere Reiz begründet sein, mit
anderen Worten darin, „daß wir den toten Marmor
vermöge unserer Phantasie zu Fleisch und Blut er-
gänzen" ?
*) Die bewußte Selbsttäuschung als Aern des künst-
lerischen Genuffes. Antrittsvorlesung von Prof. vr. Kon-
rad Lange. (Leipzig, Veit Comp., tsys.)
337
22. Dett.
Lrscheint
Derausgeber:
zferdinand Nvenarlus.
Vierteljährlich 2>/e Mark.
S. Aabrg.
Wexvusste Lelbsttüusekung und Ikunst
^f^^^ie Frage. „was ist Kunst?" gehört bekannt-
lich zu denen, so am gebildeten Stammtisch
zu stellen gesährlich ist. Jst's doch ganz selbst-
verständlich, daß man im Kreise der Stammtischsassen
über diese Dinge sich klar sein muß, da man doch
in keinem Konzertsaal, keinem Theater, keiner Aus-
stellung irgendwelche Schwierigkeiten gefunden hat,
ein maßgebliches Urteil auszusprechen. Will also der
Fragesteller die erlauchten Anwesenden hänseln? Es
scheint, man nimmt das an, denn allerdings — man
vermeidet auf die Frage einzugehen. Und doch könnte
man das eigentlich thun, ohne sich sehr schämen zu
müssen, wenn man über seine Befähigung zu einer
klaren Antwort überraschende Entdeckungen machte.
Unsere Leser wüßten, hätten sie's nicht vorher schon
gewußt, allein aus dem Carstanjenschen Aussatze über
das Schöne, daß die sich von amtswegen mit dem
Denken beschäftigenden Köpfe seit einigen tausend
Jahren vergeblich die Nüsse zu knacken versucht haben,
die hier unter scheinbaren Selbstverständlichkeiten ver-
steckt sind. Was ist Kunst? Unser Empfinden ant-
wortet aus die Frage ganz prompt, aber mit durch-
dachten Worten ist der Sache bei näherem Zusehen
ganz unangenehm schwer beizukommen, wenn man
nicht sröhlich und unbekümmert auf irgend einen meta-
physischen Meister schwört, der „mit Worten ein System
bereitet" hat ^— mit Worten.
Konrad Lange, dessen Gedanken über künstlerische
Erziehung der Jugend uns vor einiger Zeit des län-
gern beschäftigt haben, hat seine Antrittsvorlesung
bei Einführung ins Tübinger Prosessorat benutzt,
um Gedanken, die er sich über die Antwort aus jene
Frage gemacht hat, der Oeffentlichkeit zu übergeben.*
Wir wollen im Folgenden von ihnen sprechen; sie
verdienen das nicht nur, ihre Wichtigkeit verlangt es.
Eine erste, vorläufige Antwort liegt ja klar:
Kunst ist, als Können, eine durch Uebung erworbene
Fähigkeit und zwar eine, die andern einen Genuß
verschafft, der ohne praktische Jnteressen ist. Aber
die Definition ist nicht eng genug; sie paßt auch z. B.
aus die Zirkus„künste" und das Ballet, die mit der
hohen Kunst gleich zu bewerten das dunkle aber starke
unmittelbare Gesühl uns verwehrt. Vergleichen
wir also einmal ein Kunstwerk und ein „Artisten-
werk" mit einander: beispielsweis die Florentiner
Marmorgruppe der Ringer und eine Gruppe oon
lebendigen Ringern. Warum würde jeder fein ent-
wickelte Mensch die Marmorgruppe mit viel höherem
Lustgesühle betrachten, als die lebendige, selbst wenn
diese letztere in allen Beziehungen jener entspräche?
Die eine i st lebendig, die andere scheint so — sollte
eben darin der besondere Reiz begründet sein, mit
anderen Worten darin, „daß wir den toten Marmor
vermöge unserer Phantasie zu Fleisch und Blut er-
gänzen" ?
*) Die bewußte Selbsttäuschung als Aern des künst-
lerischen Genuffes. Antrittsvorlesung von Prof. vr. Kon-
rad Lange. (Leipzig, Veit Comp., tsys.)
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