Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

DOI Heft:
Heft 24
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Der Landschaftssinn
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0379

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Lvveites Heptemberbett IS9Z.

24. Dett.


Derausgcbcr:

zferdinand Nvenarius.

Vierteljährlich 2>/e Mark.

8. Zabrg.

Der Landsebaktssinn.

r gab früher eine Theorie, rvelche die merk-
würdige Erscheinung, daß die Südländer
so wenig Sinn sür Natur hätten und die
Nordländer so oiel, daher ableitete, daß der Süd-
länder die Natur habe, also nicht zu suchen brauche.
also nicht zu schätzen wisse. Durch die Entwicklung
unserer modernen Kunst ist diese Theorie widerlegt
worden. Erstens hat man entdeckt, daß selbst die
norddeutsche Tiesebene gar keine so üble Natur ist, daß
nur die Menschen bisher sehlten, diese Natur zu ver-
stehen, und zweitens hat das Volk, das die prüchtig-
sten Landschasten vor Augen hat, einen Natursinn
entwickelt, wie er bis jetzt in der Geschichte dieser
Empsindung noch nicht übertrosfen ist: das skandina-
vische. Nicht daß man die Natur zu suchen hat, macht
den Landschaftssinn — denn die Natur ist überall
da und man braucht sie nicht zu suchen, sondern das
Klima, in dem der Mensch lebt, stärkt oder schwächt
den Naturgenuß. Es stärkt ihn, wenn es dem Wechsel
unterworsen ist, und es schwächt ihn, wenn es zur Be-
ständigkeit neigt. Der Mensch ist unter allen Beding-
ungen ein starkes Gewohnheitstjer, und er braucht
Wechsel und Schattierung, um empfindungssähig zu
bleiben. Er muß sich vom Winter zum Sommer,
vom Dunkel zur Sonne sehnen, um beides genießen
zu können. Er genießt ja niemals im Besitz — so
hat ihn Gott erschaffen — sondern nur in der Sehn-
sucht. Den Sommer genießt er wahrhast erst im
Winter, das Gebirge wahrhast erst in der Ebene.

Das klingt vielleicht etwas paradox, aber man wird
den wahren Kern mir bestätigen. Niemals hat sich
ein Mensch in den tiefsten Alpen so glücklich gefühlt,
als ihn vorher die Erwartung und nachher die Er-
innerung glücklich machte. So ist es mit dem Klima.
Jm Süden, wo man kaum jsühlt, wann der Lenz
kommt, und wo der Winter nur eine Abart des Som-
mers ist, stumpst sich die Sehnsucht ab; im Norden,
wo der Mensch durch die Witterung, die Tempera-
turen, die Jahreszeiten ausgerüttelt wird, muß er
lieben, was ihm stündlich geschmälert oder gewechselt
werden kann. Jn der Kunst Neapels und Roms hat
die Landschast nie eine Rolle gespielt, der leidenschast-
liche Mensch scheint ihnen dort wichtiger. Jm Norden
Jtaliens blüht der Landschastssinn schon eher, Segan-
tini ist einer der intimsten Naturbeobachter. Je weiter
nach Norden, desto bedeutsamer wird er. Die engli-
sche und schottische Kunst ist fast darauf gegründet.
Die Skandinaoier haben ein ebenso seines Organ sür
die Psychologie der Landschaft, wie sie es für die
Psychologie des Menschen haben. Wer hat jemals
schon solche Jntimitäten aus dem Weben der Natur
gehört, wie wir sie von Hamsun und seinem „Pan"
oernehmen? Da wird das Zittern eines Gräschens
zur Offenbarung, und das winterliche Starren des
Waldes ist beredter als es je Menschenthaten waren.
Er kriecht sörmlich hinein in das Leben der Natur, und
es gibt sür ihn gar keine Möglichkeit, die Natur nicht
genießen zu können, die seine Daseinsbedingung ist.

üö

Zö9
 
Annotationen