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Kunstwart und Kulturwart — 32,3.1919

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Heft 16 (2. Maiheft 1919)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14423#0164

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^>och genug vou Zuständen und Aahlen, sprechen wir von Erlebnissen! Welche
^'„Güter" nrangeln der Mehrzahl der Bevölkerung heute?

Zuerst ist da die Heimat zu nennen. Mehr als die Hälfte aller auf dem
Lande Geborenen „wandert" heute alljährlich „ab", dem winkenden Lohn nach,
in die Städte, in die Industriegegenden. Sie verliert die alte Heimat, sie ge°
winnt keine neue; denn das Wohnen in der Großstadt — wir haben etwas
von diesem Wohnen ja eben mitgeteilt! — erzeugt an sich schon ein nur küm-
merliches Heimatgefühl, es kommt aber hinzu, daß die nicht-ländliche Bevölke-
rung ihre Wohnung auch noch in unglaublicher Raschheit und Häufigkeit zu
wechseln Pflegt. — Nennen wir weiter die Bildung. Gewiß „lernt" die
gesamte Bevölkerung heute sehr viel mehr als früher. Aber wir müssen dabei
einiges sehr Wichtige bedenken. Einmal, daß der Weg von der völligen Un-
gebildetheit bis zur erreichbaren üblichen Höchstbildung heute viel länger ist
als je, entsprechend der Zunahme des Weltwissens, der wissenschaftlichen Ar-
beitsteilung, der Verfeinerung der Methoden usw., so daß der Einzelne mit
achtjähriger Schulbildung keinen verhältnismäßig größern Anteil von der mög-
lichen Höchstbildung erlangt, als vor absehbarer Zeit mit fünfjähriger. Dann,
daß unser Lehrbetrieb stetig zunahm an Spezialisiertheit und an Zuspitzung
auf die Anforderungen des künftigen Berufs; dadurch vermindert sich für viele
fraglos das Gefühl, wenigstens einigermaßen vertraut und heimisch zu werden
in den Bezirken „zweckloser" geistiger Werte — es ist ja allbekannt, daß die
Bestrebungen, z. B. „Kunsterziehung" in die Schule zu bringen, nahezn ge-
scheitert sind. Endlich und wichtigstens: nnmittelbar nach Vollendung der
Schulzeit beginnt der Erwerb, findet sich der junge Mensch in den großen
„Betrieb" hineingezogen. Er kann nur mühsam noch mehr Wissen sich an-
eignen, hat aber ganz gewiß keine eigentliche Reifezeit, keine Ruhe, keine
Möglichkeit, zu „brüten", zu rätseln, auf eigne Faust sich zurückzufinden; er
findet Lebensformen vor, in denen er seine Bahn zurücklegt, und von Iahr-
zehnt zu Iahrzehnt ergreift die „Mechanisierung" mehr Iugendliche. Das
ganze mühevolle Bestreben der Iugendpflege legt Zeugnis ab von diesen Tat-
sachen. Eng hängt zusammen mit dieser Erscheinung die andre, daß auch die
Arbeit nicht mehr annähernd so bildend und befriedigend ist, wie früher.
Es kann zweifellos bildend, festigend, beglückend wirken, wenn ein Mensch
seine Fähigkeiten dazu verwendet, sichtbare, zweckmäßige, wertvolle, schöne
Gegenstände arbeitend zu erzeugen. Aber davon ist schon beim Handwerk nur
noch in der Minderzahl der Fälle die Rede. Gar viele Handwerker müssen
sich heute meist begnügen mit Reparaturen, Installationen, Ausführungen
fremder Entwürfe, Verkauf von Fabrikware usw. Sie unterliegen auch dem
Wechsel der Modeu, des Warenbedürfnisses. Was sie als Lehrlinge hergestellt
haben, ist vielleicht schon veraltet, wenn sie Gesellen sind. Gar der Industrie-
arbeiter „fertigt" überhaupt nichts, als höchstens „Stückwerk", Leile eincs
Ganzen, das er vielleicht nicht einmal zu sehen bekommt. Er „bedient" Ma-
schinen, wechselt die „Branche", treibt, wie Sombart sagt, „entgeistete" Arbeit.
Persönliche Werte in seine Arbeit zu stecken ist ihm versagt, ebenso wie das
andre: an der Arbeit geistigen Halt zu finden, oder das dritte: für sie so viel
Lohn zu erhalten, wie sie nach seiner Meinung wert wäre. Er tut nichts, als
„Arbeitskraft verkaufen", und indem er das tut, gibt cr scin letztes „Gut" preis:
seine Freiheit. Wohl kann er seine Arbeitstätte wechseln, aber überall
wird er unter dem Sachzwange der Technik und unter dem Zwang stehen,
der von der relativen Willkür der Arbeitgeber und Arbeitleiter ausgeht. Er
muß ungesunde Arbeitstätten, Nachtarbeit, geringen Lohn, lange Arbeitzeit auf
sich nehmen. Daß er endlich in steter Gefahr ist, arbeitlos zu werden, daß er
in frühem Alter bereits seine Kraft verbraucht, daß er kein Vermögen sammeln
kann, daß er seinen Kindern nicht aus all diesen Zuständen heraushelfen kann —
all dies und vieles andere ist ja seit dem Einsehen der sozialen Bewegung und
dcr Sozialpolitik allbekanut.
 
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