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Kunstwart und Kulturwart — 32,3.1919

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Heft 18 (2. Juniheft 1919)
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Unsre Bilder und Noten
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https://doi.org/10.11588/diglit.14423#0276

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Leonardo gezeichnet wäre? Augen, wie geschaffen, um noch aus den fernsten
Fernen her den Dingen das Allerletzte auszusaugen, damit es das Hirn in
diesem gewaltigen Schädel speise. Und auf dem ganzen Angesicht eine Leiden-
schaft, die niemals satt werden kann, obgleich ihr nichts schmeckt. Es ist kein
mächtigeres Bild denkbar vom — greisen Faust!

Unter den Blättern hinten steht voran der Christnskopf aus dem
Mailänder Abendmahl, wie man ihn nicht oft zu sehen bekommt:
nach dem Originale. Häufig zu sehen bekommt man ihn, wie auf dem zweiten
Blatt hinten, dem in Rötel nach einer Zeichnung der Brera, und am seltensten
sieht man ihn so, wie unser letztes Blatt ihn zeigt, nach der Kreidezeichnung in
Straßburg. Wir bringen diese drei Blätter einmal zusammen, um an einem
schlagenden Beispiel zu zeigen, wie leicht man sich irrführen läßt, wenn ein
großer Name voranschreitet. Ist es nicht erstaunlich, daß immer noch von
Vielen, Vielen der Brera-Kopf ohne weiteres für den Kopf aus dem Mai-
länder Abendmahle gehalten wird?

Mer die Ieichnung aus der Brera mit dem Original von Leonardo
vergleicht, dem wird es immer zweifelhafter werden, ob sie überhaupt von ihm
stammt, obgleich das bei der außerordentlichen Experimentierlust gerade Leonar-
dos viellefcht nicht mit völliger Sicherheit abzuweisen ist. Mir für mein Leil
scheint am wahrscheinlichsten, daß hier eine Kopie fremder Hand nach einem
verloren gegangenen Entwnrf Leonardos vorliegt, der den Christuskopf für das
Abendmahl umriß, bevor der Meister die endgültige Lösung fand. „Süßlich"
ist der Ausdruck bei näherem Zusehen nicht, es ist seitens des Künstlers tief-
ernstes Suchen nnd schöpferisches Durchfühlen in diesem Werk, nnd die zeich-
nerischen Schwächen und Fehler könnten erst vom Kopisten hineingebracht fein.
Dem endgültigen Werke näher stand wohl das Bild, nach dem das Straßbur-
gerBlatt gezeichnet ist. Aber derAbzeichner war ein Anfänger, und so käm etwas
weinerlich Schwächliches ins Auge und etwas Dummes in die Wangen- und
Mundpartie. Weitaus am nächsten zu Leonardo hin führt nns aus all seiner
traurigen Verderbtheit noch heute die Rnine des Originals. Hier mnß
man sich hineinsehen, um Leonardo zu verstehen. Da ist kein Restchen mehr
von dem überkommenen, etwas weichlich schönen Thp, in diesem Christus-
haupt ist alles reif, tief, männlich, hart, entschlossen, und dabei von einer
großartigen Schlichtheit. „Einer unter euch wird mich verraten." Man hört
den Gedanken mit unausgesprochenem Worte fortarbeiten, wenn man in dieses
Gesicht sjeht. „Erschreckt ihr? Es muß euch ja unglaublich scheinen. Aber",
man fühlt etwas wie ein unsichtbares Achselzucken: „Aber so furchtbar es ist —
es i st so."

Das Blatt über der ersten Seite ist eine Zeichnung von Fritz Philipp
Schmidt aus Avenarius' Hausbnch. Das kleine Schlußstück ist ein Spiel-
mannsbildchen von Hans Volkert.

tzsrausgeber: vr. d. e. Ferdinand Avenarius in Dresden-Blasewitz; vcrantworilich: der
tzerausgeber. Mitleitende: Artnr Bonus, Or. P. Th. Hoffmann und Wolfgang Schumann —
In üsterrcich-Nngarn für tzerausgabe u. Schriftleitung verantwortlich: l)r. Richard Batka in WienXIII/6 —
Scndungen für den Tcxl ohneAngabeeinesPersonennamensandie „Kunftwart- L eitnn g" in
Dresden-Blasewitz — Manuskripie nur nach vorheriger Vcreinbarung, widrigcnfalls
keine Verantwortung übernommen werdcn kann — Verlag von Georg D. W. Callwev, Druck von
Kastner L Lallwey, Buchdruckerei in Münchcn — Geschästsstelle fiir Berlin: Georg Sicmens, V 37,
Kurfürstenstr. 8 — Geschästsstellc für Ssterreich-Nngarn: Buchhandlung Morig Pcrlcs, Wien I, Seilcrgasse 4.
 
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