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Moderne Geschichtswissenschaft.

unbekannten Formen gegenüber den bisher erlebten differenziert
und offenbarten teilweis Gebiete des seelischen Daseins, die
bisher unter der Schwelle des Bewußtseins geblieben waren.
Es war eine Zeit höchster Erregung, die anfangs nur einen
Teil der Nation ergriff, und die als krankhaft, als nervös be-
trachtet wurde. Aber bald wurde sie, mit der Allgemeinheit
der sie bedingenden Reize, namentlich soweit diese aus dem
Wirtschafts-, Verkehrs- und sozialen Leben kamen, allgemein und
schließlich auch als unvermeidlicher Entwicklungsvorgang begriffen:
und an die Stelle des Wortes Nervosität trat ein spezifischer
Zustand, für den die Bezeichnung Reizsamkeit erst zu bilden war.
Aber in diesem Übergange und seiner Erkenntnis lag schon
ausgedrückt, daß die soziale Psyche der Zeit, daß die führenden
Seelenleben nicht geneigt waren, sich dieser Reizsamkeit in ihrer
naturalistischen, dissoziierenden Wirkung zu unterwerfen. Indem
man den Zustand begriff, klar oder instinktiv, war man bereit,
ihn zu überwinden. Die Bildung eines neuen psychischen Kerns,
einer neuen Dominante der Persönlichkeit begann sich unter
den neuen, nun bestehenden Reiz- und Assoziations-, Strebungs-
und Gefühlsverhältnissen zu vollziehen: der Mensch tauchte
wiederum empor als der Beherrscher seiner Impressionen; die
idealistische Periode einer neuen seelischen Zeit begann.
Es ist ein Vorgang, der an sich, in den einzelnen Stufen
seines individuellen Verlaufes, gewiß von größtem Interesse
ist. Allein nicht deshalb haben wir ihn hier auf seine grund-
legenden psychischen Motive, auf sein seelisches Muskel- und
Sehnennetz hin gleichsam zerfasert. Von noch weit größerem
Interesse ist, daß er sich, bei genauerem Zusehen, in ebendiesem
Muskel- und Sehnennetze als ein schematischer Prozeß heraus-
stellt, in dem die Übergänge auch der früheren Kulturzeitalter
verlaufen sind: was also aufgedeckt worden ist, ist die psychische
Mechanik des Überganges von einem Kulturzeitalter zu einem
andern überhaupt.
Natürlich nicht in dem Sinne, daß sich jede Erscheinung
des Überganges in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
in allen früheren Übergängen dis auf die Faser genau, gleichsam
 
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