roF
XIX.
' Den ztett Iulius 1767.
Es ist einem jeden vergönnt , seinen eigenen Geschmack zu
Haben; und es ist rühmlich / sich von seinem eigenen Ge-
schmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen,
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit
ertheilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hatte,
ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müßte,
Heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers heraus-
gehen , und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber auf-
werfen. Der angeführte französische Schriftsteller fängt
mit einem bescheidenen, " Uns wäre lieber gewesen „ an,
und geht zu so allgemein verbindenden Aussprüchen fort,
daß man glauben sollte, diefts Uns sey aus dem Munde
Lor Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter fol-
gert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat
seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die
Natur der Sache erfodert.
Nun hat es Aristoteles längst entschieden, wie weit sich
der tragische Dichter um die historische Wahrbeit zu be-
kümmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingcrich-
teten Fabel ähnlich ist, mit der er seine Absichten verbin-
den kann. Cr braucht eine Geschichte nicht darum, weil
sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen
ist , daß er sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke
besser erdichten könnte. Findet er diese Schicklichkeit von
ungefehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre
Fall willkommen; aber die Geschichtbüchcr erst lange dar-
um nachzilschlagen, lohnt der Mühe nicht. Und wie viele
wissen denn, was geschehen ist? Worin wir die Möglich-
XIX.
' Den ztett Iulius 1767.
Es ist einem jeden vergönnt , seinen eigenen Geschmack zu
Haben; und es ist rühmlich / sich von seinem eigenen Ge-
schmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen,
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit
ertheilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hatte,
ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müßte,
Heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers heraus-
gehen , und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber auf-
werfen. Der angeführte französische Schriftsteller fängt
mit einem bescheidenen, " Uns wäre lieber gewesen „ an,
und geht zu so allgemein verbindenden Aussprüchen fort,
daß man glauben sollte, diefts Uns sey aus dem Munde
Lor Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter fol-
gert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat
seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die
Natur der Sache erfodert.
Nun hat es Aristoteles längst entschieden, wie weit sich
der tragische Dichter um die historische Wahrbeit zu be-
kümmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingcrich-
teten Fabel ähnlich ist, mit der er seine Absichten verbin-
den kann. Cr braucht eine Geschichte nicht darum, weil
sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen
ist , daß er sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke
besser erdichten könnte. Findet er diese Schicklichkeit von
ungefehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre
Fall willkommen; aber die Geschichtbüchcr erst lange dar-
um nachzilschlagen, lohnt der Mühe nicht. Und wie viele
wissen denn, was geschehen ist? Worin wir die Möglich-