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DIE REFORMATION: IHR HELD UND IHR MALER

In der Seele eines anderen, in der großen und heldischen des Augustinermönchs und
thüringischen Bauernsohns Martin Luther, der seit 1508 als Lehrer an der Wittenberger
Hochschule wirkte, war inzwischen die Entscheidung des deutschen Gewissens schon
gefallen. Kaum war der schmächtige Mönch mit nachtwandlerischer Sicherheit aus seiner
Zelle getreten und hatte seine 95 lateinischen Thesen an die Schloßkirchentür geschlagen,
so ergriff seine Tat, fliegendem Feuer gleich, die deutschen Gemüter und rief die Entscheidung
des einzelnen eine ganze Welt zur Entscheidung.

Immer wieder erweist sich die Kühnheit des Augustiners durch nichts so überwältigend,
als durch Schauplatz und Zeitpunkt seines Beginnens.

Am Fest Allerheiligen — wir wissen es -—- brachte der fromme Kurfürst von Sachsen in
der Schloß- und Stiftskirche Allerheiligen Jahr um Jahr den tausendfältigen kostbaren
Reliquienschatz zur Ausstellung, den er mit soviel gläubigem Eifer, hingebender Sammlerliebe
und beträchtiichen Opfern zusammengetragen hatte. Wie die Jahre vorher, standen am Yor-
tag des Festes, am 31. Oktober 1517, die gewiegten Ablaßprediger mit Kisten und Kasten
bereit, um unter Aufsicht von Vertretern des Bankhauses Fugger für gutes Geld die Fülle
kirchlicher Gnaden zu verkaufen. Am Ertrag des Geschäfts waren gleicherweise der Papst
in Rom und der Erzbischof von Mainz beteiligt — der junge, prachtliebende Brandenburger
Albrecht, der zur Bezahlung seines erzbischöflichen Schulterkragens (Palliums) von den
Fuggern in Augsburg seinerzeit 30000 Gulden entliehen hatte. Von nah und fern waren reich
und arm, Mann und Weib, alt und jung schon in Scharen herbeigekommen, um rechtzeitig
zur Stelle zu sein. Durch Verehrung der in Gold und Silber geborgenen Reliquien, an Hand
des Heiligtumsbüchleins, galt es, Nachlaß der Sünden, Milderung der drohenden Jenseits-
strafen zu erhandeln, galt es — um mit dem betriebsamen Ablaßprediger Tetzel zu reden —,
für einen Viertelgulden sichere Geleitsbriefe ins Paradies zu erhalten.

Just an diesem Vortag des hohen Festes und der schimmernden Gnadenschau gab es ein
anderes, minder prächtiges, aber ungleich bedeutsameres Schauspiel: ein Mönch und Priester,
ein angesehener Professor der Theologie an der Hochschule und bekannter Prediger an der
Wittenberger Stadtkirche, forderte öffentlich in 95 Streitsätzen eine „Disputation zur Er-
klärung der Kraft des Ablasses“, sagte dem unverantwortlichen Mißbrauch eines handels-
mäßigen Straf- und Sündennachlasses Fehde an, rührte an die hohe päpstliche Schlüssel-
gewalt und damit unmittelbar an die Grundfesten des Papsttums und der gesamten römisch-
mittelalterlichen Kirche!

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