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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1855

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https://doi.org/10.11588/diglit.29616#0204

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190

Viertes Buch. Anhang. Russische Baukunst.

Charakter

derselben.

Kirchenan-

lagen.

Inneres.

Aeusseves.

ANHANG.

Die russische Baukunst,

Gleich der muhamedanischen ging auch die russische Architektur vor-
züglich von byzantinischen Einwirkungen aus; gleich j ener ist auch sie
ihrem Wesen nach ein Produkt des Orients. Aber man würde sich irren,
wollte man in ihr einen Hauch von dem liebenswürdigen, geistreichen Wesen
suchen, welches jene überall in mannichfaltiger Weise zur Erscheinung
gebracht hat. Es ist der Orientalismus in seiner geistlosesten, barbarische-
sten Form, byzantinischer Pomp in asiatischer Verwilderung, der in diesem
Style zur Geltung kommt.

Die Grundanlage, das griechische Kreuz, dessen Hauptpunkte durch
Kuppeln hervorgehoben werden, ist auf Byzanz zurückzuführen. Von dort-
her empfing Russland auch gegen Ende des 1 0. Jahrh. unter Wladimir dem
Grossen das Christerithum. KieAv und Nowgorod, die alten Hauptstädte
des Landes, prangten mit kostbaren Kirchen. Denn auch hier war Reich-
thum und Prunk der Ausstattung der vornehmste Gesichtspunkt der Er-
bauer. So verschwenderisch aber auch das Innere mit Mosaiken und dem
blitzenden Schimmer edler Metalle geschmückt wird, so eng, düster und
gedrückt ist gleichwohl der Eindruck desselben. Hier weht kein Athemzug
eines freien Gedankens, einer erhöhten, begeisterten Empfindung. Der
Despotismus, der selbst die Gewissen knechtet, lastet mit bleierner Schwere
auf dieser Architektur und verbannt aus ihr Licht, Luft und freudiges Auf-
streben. Am Aeusseren aber feiert er in barbarisch-wilder Lust seine sinn-
losen Orgien. Aus dem niedrig gedrückten Körper des Baues wuchern eine
Unzahl von Thürmen und Kuppeln hervor, in den ausschweifendsten For-
men sich gebahrend. Halbkugelig, eiförmig, ausgebaucht, birnenartig ge-
wunden, bald kraus und hoch hinaufschiessend, bald schwerfällig breit
hingedehnt, dabei mit bunten Farben und Vergoldung bedeckt, sehen sie
nach Kugler’s treffendem Vergleiche „einem Knäuel glitzerndes Riesen-
pilze“ ähnlich. So sind auch die übrigen Theile des Aeusseren mit barba-
risch verwilderten Ornamenten in greller Bemalung vollständig bedeckt.
Man begreift diesen Bauwerken gegenüber jene Geschichte vom Baumeister
der der „schützenden Muttergottes“ geweihten Kirche Wassilij Blä-
ge nnoi zu Moskau, welchem Iwan Wassiljewitsch der Schreckliche die
Augen ausstechen liess, damit er kein zweites Weltwunder baue. Das ge-
schah um die Mitte des 16. Jahrh., ein Beweis, dass weder die Kultur noch
die Baukunst in Russland seit ihrem Beginn erhebliche Fortschritte gemacht
hatte. Die russische Architektur ist ein treues Spiegelbild der russischen
Staatskirche.

Neuerdings hat indess auch hier, namentlich in den Profanwerken,
die im gebildeten Europa herrschende modern-antikisirende Baukunst Ein-
gang gefunden.
 
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