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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 30.1987

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Nr.3
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Aufsätze
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Munding, Heinz: Altphilologie und Öffentlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.35878#0096

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Aufsätze

A!tphi!o!ogie und Öffentüchkeit
Ein altsprachlicher Unterricht, der über rein formale Sprachübungen hinaus zu einer
ernsthaften Beschäftigung mit der griechisch-römischen Antike vordringt, leidet heute
unter einem doppelten Handicap: er findet nur noch in wenigen kleinen Unterrichts-
gruppen des Gymnasiums statt, und er liegt zu der Hauptrichtung, in der wir uns z.Zt.
im Rahmen unserer Industriekultur bewegen, quer. Sieht man genauer hin, so ist seine
Sperrigkeit gegenüber dem ,,System" sogar noch stärker als bei vergleichbaren Rand-
erscheinungen unserer Gesellschaft, z.B. bei gewissen kirchlichen Gruppen oder bei
den ,,Grünen".
Im Interesse eben dieser Gesellschaft wäre es nun m.E. gut, wenn die Altphilologen,
womit ich Universitäts- und Gymnasiallehrer gleichermaßen meine, aus ihrer Spezial-
ecke herausgingen und ihren Stoffen, statt sie mit der Vorsicht des,,Fachmanns" unter
Verschluß zu halten, mehr öffentliche Resonanz verliehen. An der Schule könnte dies
z.B. damit beginnen, daß der Lehrer seine Schüler niöht als prospektive Mitglieder ei-
ner humanistischen Elite, sondern, allerdings in einem anspruchsvolleren Sinne als ge-
wöhnlich, als angehende Staatsbürger behandelte. Dies täte er z.B. dann, wenn er sy-
stematisch die in den antiken Texten latent vorhandenen fächerübergreifenden Bezü-
ge herausstellte, d.h. wenn er die Lebensweisheiten, die uns Griechen und Römer im
Rahmen ihrer vor-christlichen und vor-industriellen Kultur zu bieten haben, immer
wieder zu dem, was die Schüler gleichzeitig in anderen Fächern lernen, in eine zum
Nachdenken anregende Beziehung brächte. Darin könnte für die Schüler ein wichti-
ger Anreiz liegen, bestimmte Denkgewohnheiten, die sich in unserer derzeitigen Indu-
striegesellschaft scheinbar ,,von selbst" verstehen, einmal von außen zu sehen und sie
damit einer kritischen Prüfung zugänglich zu machen. Und dies könnte ihnen viel-
leicht neue Dimensionen ethischer und politischer Verantwortung erschließen, so daß
für sie allmählich ein Hauch von jener praktischen Dringlichkeit, die man z.B. Fächern
wie Sozial- oder Erdkunde ohne weiteres zugesteht, auch im altsprachlichen Unter-
richt spürbar würde.
Doch volle öffentliche Resonanz gewännen die antiken Stoffe erst dann, wenn sie
nicht nur im Raum der Schule, sondern auch ,,draußen", d.h. im Raum der die Schule
tragenden Gesellschaft selber, diskutiert würden. D.h. die Altphilologen (jetzt ein-
schließlich der Universitätsprofessoren) müßten darauf hinarbeiten, daß auch die Er-
wachsenen die Antike (wieder) kennenlernen und die antiken Lebensweisheiten bei
ihren politischen, beruflichen oder weltanschaulichen Überlegungen mit in die Rech-
nung einbeziehen. Wie könnte man nun aber erreichen, daß ausgewachsene Natur-
wissenschaftler, tndustriemanager, Bundeswehroffiziere oder Politiker inmitten des
Meeres von Informationen, in dem sie sich heute zurechtzufinden haben, z.B. Aussa-
gen von Sophokles oder von Lukrez überhaupt zur Kenntnis nehmen? Offenbar nicht
so, daß man ihnen einfach die betreffenden Texte vorlegte und sie zu
,,Textanalysen"zu bewegen versuchte, wie das in den Universitätsseminaren oder in

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