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glücklich nicht nur durch ihre eigene, sondern durch die
gemeinschaftliche Vernunft ihres Brudergeschlechts" 9.
Herdes Bewertung der Naturanlagen gestattet keine
feindselige Scheidung zwischen dem Vernünftigen und dem
Natürlichen. Während Kant die Bekämpfung der natürlichen
Triebe fordert und gerade in ihrer Niederwerfung den Fort-
schritt der Menschheit erblickt, ist Herder weit davon ent-
fernt, die sinnliche und moralische Natur des Menschen in
einen schroffen Gegensatz zu stellen, sondern vielmehr ge-
neigt, im Sinne von Leibniz eine kontinuierliche zwanglose
Entfaltung der menschlichen Anlagen zu einem schönen und
harmonischen Ganzen anzunehmen.
Die Betonung des Endzwecks wird von Herder eben-
falls verworfen. Die aufeinanderfolgenden Perioden erfahren
eine relativ gleichmässige Bewertung, wenn auch darauf
reflektiert wird, wie weit die schöne Blüte der Humanität
sich in jenen früheren Epochen der Menschheit bereits ent-
faltet hat. Humanität ist immer gewesen soweit die Ge-
schichte zurückreicht, daher ist jede Entwickelungsphase der
Menschheit wertvoll, und auf jeder Stufe ihrer Genesis das
erhabene Ziel ihrer Bestimmung in gewissem Umfang bereits
erfüllt. Herders geschichtsphilosophicsche Spekulation bleibt
dabei nicht auf die Kulturvölker beschränkt, sondern zieht
auch die sogenannten Naturvölker in den Kreis seiner Be-
trachtungen hinein, und zwar gelten ihm diese nicht nur
als Vorläufer einer wertvollen Entwickelung, sondern in ihrer
Eigenart und Eigentümlichkeit selber als wertvoll. Besass
doch Herder das liebenswürdigste Verständnis für die be-
sondere Art und Schönheit der verschiedenen Volksindivi-
dualitäten, hatte er doch auf das Sorgfältigste ihre Eigen-
art studiert und die wertvollen Erzeugnisse ihrer Sprache
und Dichtkunst gesammelt. Herder lehnt es ab den Sinn
des Geschehens in der Einordnung in grosse soziale Zusam-
menhänge zu erblicken 2), und die Betonung der Glückselig-
keit. der Individuen, die seinem weichen, mitfühlenden
Charakter entsprach musste notwendig den Widerspruch
Kants erregen, der, von der Wertlosigkeit der individuellen
Glückseligkeit überzeugt 3\ klar erkannt hatte, dass der Fort-
schritt der menschlichen Gattung, die Ausbreitung der Frei-
heit und die Erhöhung der Kultur nur auf Kosten der indivi-
duellen Glückseligkeit stattfinden kann.
Die relativ gleichmässige Bewertung der Perioden er-
weckt den Eindruck einer gewissen Nachgiebigkeit dem
1) a. a. O. XV, 5.
2) a. a. O. VIII, 5.
3) Die individuelle Glückseligkeit ist übrigens für Herder keines-
wegs der letzte Wert im Sinne einer eudämonistischen Moral.
glücklich nicht nur durch ihre eigene, sondern durch die
gemeinschaftliche Vernunft ihres Brudergeschlechts" 9.
Herdes Bewertung der Naturanlagen gestattet keine
feindselige Scheidung zwischen dem Vernünftigen und dem
Natürlichen. Während Kant die Bekämpfung der natürlichen
Triebe fordert und gerade in ihrer Niederwerfung den Fort-
schritt der Menschheit erblickt, ist Herder weit davon ent-
fernt, die sinnliche und moralische Natur des Menschen in
einen schroffen Gegensatz zu stellen, sondern vielmehr ge-
neigt, im Sinne von Leibniz eine kontinuierliche zwanglose
Entfaltung der menschlichen Anlagen zu einem schönen und
harmonischen Ganzen anzunehmen.
Die Betonung des Endzwecks wird von Herder eben-
falls verworfen. Die aufeinanderfolgenden Perioden erfahren
eine relativ gleichmässige Bewertung, wenn auch darauf
reflektiert wird, wie weit die schöne Blüte der Humanität
sich in jenen früheren Epochen der Menschheit bereits ent-
faltet hat. Humanität ist immer gewesen soweit die Ge-
schichte zurückreicht, daher ist jede Entwickelungsphase der
Menschheit wertvoll, und auf jeder Stufe ihrer Genesis das
erhabene Ziel ihrer Bestimmung in gewissem Umfang bereits
erfüllt. Herders geschichtsphilosophicsche Spekulation bleibt
dabei nicht auf die Kulturvölker beschränkt, sondern zieht
auch die sogenannten Naturvölker in den Kreis seiner Be-
trachtungen hinein, und zwar gelten ihm diese nicht nur
als Vorläufer einer wertvollen Entwickelung, sondern in ihrer
Eigenart und Eigentümlichkeit selber als wertvoll. Besass
doch Herder das liebenswürdigste Verständnis für die be-
sondere Art und Schönheit der verschiedenen Volksindivi-
dualitäten, hatte er doch auf das Sorgfältigste ihre Eigen-
art studiert und die wertvollen Erzeugnisse ihrer Sprache
und Dichtkunst gesammelt. Herder lehnt es ab den Sinn
des Geschehens in der Einordnung in grosse soziale Zusam-
menhänge zu erblicken 2), und die Betonung der Glückselig-
keit. der Individuen, die seinem weichen, mitfühlenden
Charakter entsprach musste notwendig den Widerspruch
Kants erregen, der, von der Wertlosigkeit der individuellen
Glückseligkeit überzeugt 3\ klar erkannt hatte, dass der Fort-
schritt der menschlichen Gattung, die Ausbreitung der Frei-
heit und die Erhöhung der Kultur nur auf Kosten der indivi-
duellen Glückseligkeit stattfinden kann.
Die relativ gleichmässige Bewertung der Perioden er-
weckt den Eindruck einer gewissen Nachgiebigkeit dem
1) a. a. O. XV, 5.
2) a. a. O. VIII, 5.
3) Die individuelle Glückseligkeit ist übrigens für Herder keines-
wegs der letzte Wert im Sinne einer eudämonistischen Moral.