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Mehlis, Georg
Schellings Geschichtsphilosophie in den Jahren 1799 - 1804: gewürdigt vom Standpunkt der modernen geschichtsphilosophischen Problembildung — Heidelberg, 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.73237#0101
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- 93 —

Für Schelling ist der Zug zum Ganzen durchaus charak-
teristisch. Dem Allgemeinen wird aller Wert zugesprochen,
für das Individuelle bleibt wenig zurück. Wahrhaft schön
und vollkommen ist nur das Ganze, das Universum selbst
ist ein vollendetes Kunstwerk, jede Absonderung und Eman-
zipation von seiner erhabenen Einheit ist Frevel und Zer-
störung. Das Einzelne muss immer als Glied des Ganzen
betrachtet werden, es darf nicht losgelöst werden aus dem
lebendigen Zusammenhang, in dem es sich befindet, sonst
verliert es seinen Wert, seine Schönheit, seine Bedeutung.
Die Geschichte ist das erhabene göttliche Weltgedicht, aus
dessen grossen, in sich geschlossenen Zusammenhang der
Sinn und die Bedeutung des Einzelnen allein verständlich ist.
Ein Uuiversalismus des Wertens hinsichtlich des Objektes
verbindet sich bei Schelling mit einer individualisierenden, das
Konkrete, Inhaltliche berücksichtigenden Wertungsmethode,
ohne jedoch zu einer vollkommenen Ausprägung der Wert-
einmaligkeit zu gelangen. Das ist das Charakteristische der
Wertspekulation Schellings.

Kapitel V.
Das Problem des Fortschritts und der Primat der
ästhetischen Vernunft.
Die Frage, ob und in welchem Sinne Schelling den
Fortschritt der Menschheit bejaht, nötigt uns diesen viel-
deutigen Begriff etwas näher ins Auge zu fassen. Was ver-
stehen wir überhaupt unter Fortschritt, eine Kategorie des
Geschehens, einen Wert oder ein Beurteilungsprinzip?
In erster Linie scheint der Begriff Fortschritt im Gegen-
satz zum griechischen Denken ein wertvolles Geschehen
vorauszusetzen; die Werte des Wahren, Guten und Schönen
konnten von dem griechischen Geist in vollkommener Trans-
zendenz und Bewegungslosigkeit gedacht werden. Sie ge-
statteten die Vorstellung ihres in sich ruhenden Seins, ihrer
Unveränderlichkeit, ihrer Abgeschiedenheit von allem Ge-
schehen. Der Begriff Fortschritt ist dagegen mit dem Be-
griff eines wertvollen Geschehens unmittelbar verbunden;
ohne wertvolles Geschehen, d. h. ohne kausale Zweckbezie-
hung des zeitlos Geltenden zu dem Zeitlichen, lässt sich kein
Fortschritt denken.
Die Philosophie nach Platon war darauf gerichtet, diese
Beziehung zwischen dem Zeitlosen und Zeitlichen herzu-
stellen, die Kluft zwischen dem Sinnlichen und Uebersinn-
 
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