Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Mehlis, Georg
Schellings Geschichtsphilosophie in den Jahren 1799 - 1804: gewürdigt vom Standpunkt der modernen geschichtsphilosophischen Problembildung — Heidelberg, 1906

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73237#0102
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
— 94 —

liehen zu überbrücken, wie das zuerst von Aristoteles ver-
sucht war. Und mochte man in der Folgezeit den Gegensatz
zwischen der immateriellen und der materiellen Welt auch
noch so schroff hervortreten lassen, immer wieder drängte
die Philosophie nach Vermittelung und Verknüpfung zwischen
dem Ewigen und Endlichen hin. Die Werte sind nicht mehr
unbekümmert um das Zeitliche, nur Bewegung und sehn-
süchtiges Streben erregend, ohne selber zu wirken, sondern
sie sind zu bildenden Kräften geworden, zu den gestaltenden
Prinzipien des Geschehens. Der Bewegungslosigkeit der
Werte korrespondierte in der griechischen Philosophie das
Ideal der Ruhe und des reinen Schauens, die stille Heiter-
keit des Weisen, seine Unbeweglichkeit gegenüber den Leiden-
schaften des Lebens; und die Auffassung der psychologischen
Funktionen stand mit der Eigentümlichkeit der griechischen
Weltanschauung und Lebensbeurteilung in vollkommenem
Einklang. In der modernen Erkenntnis ist die Anamnesis
des Denkens zur Spontaneität, die künstlerische Nachahmung
zur künstlerischen Schöpfung, das Ideal der Ruhe zum Ideal
des Handelns erhöht. Doch wurde das Ideal der Kontemplation
in den Formen des religiösen Lebens und in der christlichen
Vorstellung von dem ruhigen Sein der Seelen im Anschauen
des Ewigen und Göttlichen dauernd aufbewahrt.
Der empirischen Wirklichkeit liegt nach der Vorstellung
des Christentums ein wertvolles Geschehen zugrunde. DieWelt
soll erlöst werden, eine Vorstellung, welche allerdings die
platonische Wertauffassung noch nicht vollkommen überwindet,
insofern der Prozess des Geschehens als von einem Sein der
Werte ausgehend und zu einem Sein der Werte zurückkehrend
gedacht wird. Die Ideenwelt ist entweiht, zerstört, verun-
reinigt, und der Prozess der Welterlösung soll diese ursprüng-
liche Reinheit wiederherstellen. Das Geschehen hat also nach
dieser Vorstellung nur einen Wert, insofern etwas wieder gut
gemacht und repariert wird, nicht aber als Geschehen an sich.
Dass der ganze Weltprozess, der die Erneuerung der Ideen-
welt bezweckte, als ein einmaliger gedacht wurde, erhöhte
die Bedeutung jeder Epoche des Geschehens und machte sie
wertvoll mit Rücksicht auf das Ziel, zu dessen Erreichung
sie eine notwendige Etappe bedeutete; aber dieses Ziel, das
anfangs noch als ein in kurzer Frist erreichbares erschien,
verschwand mehr und mehr in unbestimmter Ferne, und der
Ausgangspunkt, die Ideenwelt vor dem Abfall, versank vor
dem suchenden Blick in dämmernden Nebel.
Das Christentum kennt ein wertvolles Geschehen nicht
sowohl als Leistung der Persönlichkeiten, sondern in der
Hauptsache als hervorgebracht durch ein Allgemeines, Gött-
liches, das den Läuterungs- und Reinigungsprozess auf dem
 
Annotationen