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zuzusprechen sei. Anderseits kann sich die Frage erheben,
welcher Kulturbetätigung der Menschheit der grösste Wert
zukomme, dem sittlichen Handeln, dem spekulativen Erkennen,
dem künstlerischen Schaffen oder dem religiösen Schauen,
Leben und Wirken. Im ersten Falle sprechen wir wohl ganz
allgemein von Individualismus oder Universalismus, im letz-
teren Falle von Intellektualismus, Voluntarismus, ästhetischer
und religiöser Weltanschauung. Die Bezeichnung Voluntaris-
mus ist jedoch nicht eindeutig, weil darunter ebensowohl die
Herrschaft des sittlichen wie des irrationellen Willens ver-
standen werden kann. Wir unterscheiden daher besser zwi-
schen dem Primat der theoretischen, praktischen, ästhetischen
und religiösen Vernunft.
Diese beiden Hauptrichtungen in der Wertbeurteilung
lassen die mannigfaltigsten Kombinationen zu, so etwa
„praktischer Individualismus" oder „ästhetischer Univer-
salismus". Ferner kann eine Kombination auch in der
Weise eintreten, dass Wissen, Religion und Kunst als die
höchsten Kulturbetätigungen der Menschheit über die Grenzen
der sozialen Gemeinschaft hinausgehoben und wie bei Hegel
in die Sphäre des absoluten Geistes versetzt oder doch
wenigstens als Ueberbau über der Betätigung der engeren
sozialen Gemeinschaft betrachtet werden. Diese Idee des
Hinausgreifens der höchsten Kulturbetätigungen weit über
die Sphäre des Staates hinaus kann mit einer Wertschätzung
dieser engeren sozialen Gemeinschaft verbunden sein oder
zur Herabsetzung des Staatsgedankens führen. Hier ent-
springt das Problem des Kosmopolitismus, Internationalismus
und Nationalismus, das seinerseits wieder die verschieden-
artigsten Modifikationen zulässt. Die Anschauung, dass Kunst,
Wissenschaft und Religion einen über die staatliche Gemein-
schaft hinausgehenden Wert repräsentieren, bildet den Gegen-
satz zu der hellenistischen Anschauung, die Religion, Sitt-
lichkeit und Kunst dem Staatsgedanken unterordnete. Die
Loslösung dieser Werte vom Staatsgedanken ist wiederum
doppelsinnig, je nachdem der Staat wie im Zeitalter des
Absolutismus mit dem herrschenden Willen identifiziert oder
dieser herrschende Wille als integrierender Teil der nationalen
Gemeinschaft angesehen wird. Hier taucht die Frage auf,
ob die Nation nur wertvoll ist, insofern sie die Werte reali-
siert oder ob sie auch an sich einen Wert darstellt, ob die
Ausbildung des Kultursystems Sache der verschiedenartigen
Betätigung der Nationen oder etwa in homogener Weise
Sache der ganzen Menschheit ist, ob etwa die Kunst ihres
nationales Charakters entkleidet werden und durchaus uni-
versell sein soll. Der weltbürgerliche Gedanke lässt seiner-
seits die verschiedenartigsten Abtönungen zu, vom ausge-
 
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