Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
— 31 -

der Romantik nur schüchtern hineinwagen und mehr an der
Oberfläche des politischen Tagesinteresses stehen bleiben,
ohne das philosophische Denken und das poetische Empfinden
in seinen Grundtiefen zu bewegen.
Die Verehrung des Mittelalters in der französischen Ro-
mantik ist lediglich die Frucht klerikaler und reaktionärer
Tendenzen. Wie im Mittelalter möchte man mit Unterdrückung,
jeder freien und selbständigen Regung der Volksseele ein
Netz von Gehorsamsbanden um alle politischen Staatsgebilde
schlingen und sie in einem Sacerdotium vereinigen. So musste
die französische Romantik notwendig in Gegensatz zu aller
wahren Philosophie und Kunst geraten, was ihre Abneigung
gegen das Hellenentum erklärt, wie sie sich bei einem Phi-
losophen von der Bedeutung Comtes so augenscheinlich gel-
tend macht, denn das schönheitsfreudige, freiheitsliebende
Griechenland ist der natürliche Feind aller dogmatischen
Beschränktheit.
Im Gegensatz zur französischen Romantik ist die deutsche
unter dem Einfluss Goethes und Schillers bei aller Verideali-
sierung des Mittelalters, der Antike doch keineswegs feind-
lich gesinnt. Sie besass zu einer Verkennung der eminenten
Bedeutung des Griechentums für die Geschichte der Mensch-
heit viel zu viel historisches Verständnis. Schelling selber,
der begeisterte Verehrer Platons, ist ein leidenschaftlicher
Bewunderer der griechischen Schönheitswelt, und es scheint
beinahe, als ob der Pessimismus oder besser gesagt die weh-
mütige Resignation, welche Schellings Geschichtsphilosophie
durchzittert, und die schon im System des transzendentalen
Idealismus sich bemerkbar macht, nicht zum wenigsten dem
Untergange des Helenentums galt 9, dem er vielleicht dereinst
mit dem unglücklichen Jugendfreunde Hölderlin gemeinsam
nachgetrauert hatte. Griechenland bedeutet für Schelling
die schöne Jugend des Menschengeschlechts, deren Dahin-
welken ihn mit tiefem Schmerz erfüllt, ein Schmerz, in dem
sich das ästhetische Bedauern des Künstlers über den Unter-
gang des herrlichen Kunstwerks mit tiefen Reflexionen über
den Untergang des Edleren und Besseren im Prozess des
Geschehens unmittelbar vereinigt.
Die klerikale Tendenz der französischen Romantik offen-
bart sich in ihrer künstlichen Wiederbelebung der christlichen
Dogmen und in der schwärmerischen Verehrung des Papst-
tums und der Hierarchie. Die Symptome für diese Geistes-
richtung, die in besonders krasser Form bei Chateaubriand
hervortreten, finden sich, wenn auch gemildert, noch bei
Comte in dem besonderen Zuschnitt auf die von ihm ver-

1) Schelling, Werke I, Bd. III, S. 603—04 und I, Bd. V, S. 429.
 
Annotationen