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— 56 —

die höhere Darstellung den wirklichen Zusammenhang der
Begebenheiten vernachlässigen1). Auch darf die Geschichte
den Standpunkt der Wirklichkeit in keiner Weise verlassen,
eine Forderung, die ganz von selbst verbietet nach Art der
alten Historiker, die Schelling als vorbildlich rühmt, in die
Reden der Helden und Staatsmänner epische Ergänzungen
einzuflechten, noch gar nach der Art der mittelalterlichen
Geschichtsschreibung die historischen Tatsachen zum Zweck
der Unterhaltung durch abenteuerliche Erzählungen zu be-
reichern. Die „historische Kunst" schildert die Begebenheiten
in ihrer notwendigen empirischen Verknüpfung, aber sie trägt
keinen äusseren, fremden Gesichtspunkt an das historische
Geschehen heran wie die pragmatische Geschichtsschreibung.
Die Geschichte wird dargestellt um der Geschichte willen,
ihr ureigenster Gehalt soll zum Ausdruck gebracht werden,
und an die Stelle einer willkürlichen Auswahl des Geschehens
nach partikularen Zwecken soll in der historischen Kunst
der volle ungehemmte Strom der Geschichte an uns vorüber-
rauschen. Die historische Kunst erhebt sich über die Welt
der sinnlichen Gestalten, sie lässt über die empirische Ver-
knüpfung der Begebenheiten hinaus eine höhere Ordnung der
Dinge gleichsam hindurchscheinen, ohne jemals über sie zu
reflektieren oder sie zur Deutung der empirischen Begeben-
heiten in Anspruch zu nehmen.
Sie lässt nur ahnen, dass dieser Reichtum des histori-
schen Lebens, diese bunte Mannigfaltigkeit des Geschehens
einer höheren Notwendigkeit unterliegt, dass die grossen
historischen Ereignisse, dass die Taten ihrer Helden einen
Wert besitzen, der über die empirische Wirklichkeit und die
individuellen Ziele und Zwecke, die sie sich setzen, hinaus-
ragt. Sie lässt in dem scheinbar zufälligen überraschenden
Erfolg und in der weitreichenden Wirkung minimaler Ur-
sachen, sowie anderseits in dem plötzlichen Zunichtewerden
eines grossen Kraftaufwandes das Schicksal ahnen, das
dem fortstürmenden Genius gebieterisch seine Grenze setzt
und die unbeachtete und verborgene Tat geheimen Schaffens
und Wirkens zu rechter Zeit, wenn ihre Stunde gekommen,
gewaltig hervortreten lässt, um den Fluss der Begebenheiten
in neue Bahnen zu lenken. Vielleicht würde eine Darstel-
lung der Weltgeschichte wie Ranke sie gegeben, der in den
grossen weltgeschichtlichen Ereignissen das Walten der Idee
erkennt, der ohne alle tendenziöse Verengung den breiten
Strom des geschichtlichen Lebens an uns vorüberfluten lässt
und mit einer wahrhaft ästhetischen Freude an der Farben-
pracht und Gestaltenfülle der konkreten Wirklichkeit die

1) a. a. 0. S. 310.
 
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