Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Meier-Graefe, Julius [Editor]; Renoir, Auguste [Ill.]
Auguste Renoir — München, 1920

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.27183#0122
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
trotzdem uns nicht entgeht, daß die Personen viel objektiver
gegeben wurden als in den „Kindern Berard“, trotzdem dort von
der hier versuchten Synthese nichts oder so gut wie nichts be-
merkt wird. Man könnte sagen, die „Familie Charpentier“ sei
von dem Auge erfaßt worden, die „Kinder Berard“ vom Geiste;
sie sind in viel höherem Grade Schöpfung.

Das Gemälde hängt in der Berliner Nationalgalerie als Pen-
dant zu dem wenige Jahre vorher entstandenen Meisterwerke
Manets, „Dans la Serre“, mit den beiden starken Gestalten, und
man kann bei der Betrachtung dieser vollgültigen Dokumente
der beiden Meister den Umfang einer Bewegung ermessen,
der man ein wenig voreilig einen Sammelnamen gab. Kaum ein
Atom ist diesen Werken, deren Autoren sich bei ihrem Start
verhältnismäßig nahe waren, gemeinsam. Zwischen beiden ist nicht
zu entscheiden. Manet übt in seinem Werke königlich eine könig-
liche Gabe. Seine Kraft steht auf dem Gipfel, seine Klugheit
läßt nichts von ihr verloren gehen. Nichts von seiner unnachahm-
lichen Fähigkeit, mit einem Pinselstrich Leben zu geben, bewirkt
die Schönheit des anderen Werkes. Hier ein ursprünglich ganz
lyrisches Gestalten, dessen Art nur selten intellektuellen Ent-
scheidungen zu gehorchen pflegt, und dem gerade die klare Ein-
sicht in seine Zwecke das Endgültige einer klassischen Form
verheißt. Dort gewaltige Natur. Vielleicht dringt Manets Werk
schneller zu uns. Es ist, als brauchten wir nur die Augen zu öffnen,
um es zu empfangen, und es mag uns deshalb elementarer er-
scheinen. Aber täuscht nicht dieser Eindruck der ersten Sekunde?
Mit mächtiger Hand räumt Manet alles hinweg, was uns von der
Natur trennt. Das feine Netz der Tradition widersteht nicht seinem
Griffe. An ihre Stelle rückt das Temperament, das blitzschnell
der Neuart flüchtiger Erscheinungen folgt. Aber wehe dem Werk,
wenn das Temperament einmal nicht dem Zügel gehorcht, wenn
die geschickte Hand auch nur ein Geringes ihrer Geschmeidigkeit
einbüßt. Manet ist eine Kunst auf Messerschneide, ein Einzelfall,
von dem wir uns keine Brücke in die Zukunft denken, kaum
wünschen können. Renoir steht gesicherter da. Er beweist uns
noch heute, wie wenig die Hand neben der Anschauung bedeutet,
und man wird von ihm bezwungen, ohne je nach seinem Tem-
perament zu fragen. Die „Kinder Berard“ zeigen mehr und weniger

118
 
Annotationen