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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0010
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poetisch-gemütlichen Betrachtungsweise der Schöpfung, die mit einer künstlerischen Anschauung ihrer
Formenelemente im Sinne der Antike nichts zu thun hat.
Schon unsere ganze Erziehung legt mit ihren wissenschaftlichen Disciplinen jenes, jedem Kinde
noch heute eigene Vorstellungsvermögen gerade in den Jugendjahren, in welchen Beobachtungs- und
Einbildungskraft am thätigsten sind, in einem Masse brach, dass es in späteren Jahren nur mit Mühe
zurückgewonnen werden kann. Vermögen wir deshalb die Naturerscheinungen selbst in ihren vorbild-
lichen Formen nicht mehr mit gleicher Schärfe zu sehen, so können wir dieselben daher auch in ihrer
Bedeutung und Wechselwirkung in und mit den überlieferten Kunstformen nicht mehr mit der gleichen
Lebendigkeit und Unmittelbarkeit empfinden, wie der Mensch jener der Natur künstlerisch näher
stehenden Kulturperioden. Können wir uns schon aus diesem Grunde der antiken Kunstformen in
einer, sie unseren heutigen Bedürfnissen mehr äusserlich anbequemenden Weise bedienen, so kommt
uns gleichzeitig auch nicht zum vollen Bewusstsein, dass die Naturbetrachtung noch heute ein gleich
wirkungsvolles Mittel zur künstlerischen Ausgestaltung der tektonischen und technischen Aufgaben
unserer Zeit an die Hand giebt. Mit der Schätzung des Hilfsmittels hat sich aber auch die Anwendung
und das Studium der Naturformen vermindert und zwar am meisten in der Architektur und jenen
ihr dienenden technischen Künsten, welche sie vorwiegend in abgezogener Weise zu nutzen ge-
zwungen sind.
Während frühere Stilperioden reichen Gebrauch von dem Studium der natürlichen Erscheinungen
machten, vernachlässigte unsere Zeit dieses Lebenselement der Kunstformenbildung. Entsprechend
den archäologischen, historisch betrachtenden, sammelnden und konservierenden Neigungen der Gegen-
wart bewegt sich Architektur und Kunstgewerbe vorwiegend im Kreise der überlieferten Formen.
Namentlich hängt es dem letzteren noch immer an, dass seine Wiedererweckung und sein Aufschwung
in technischer Beziehung zuerst dem Sinne zum Sammeln und dem Studium der Vergangenheit ent-
sprungen ist. Wurde dadurch der Nachahmungstrieb gefördert und die Selbständigkeit des künstleri-
schen Vorstellungsvermögens im allgemeinen geschädigt, so entfremdete auch die mit unserer Kunst-
übung zusammenhängende Erziehungsweise den heranwachsenden Künstler der Natur, raubte ihm die
Gelegenheit und das Vermögen, die künstlerischen Formenelemente in ihren Erscheinungen zu erkennen
und sie in die ornamentale Sprache der Kunst überzuführen.
Wenn sich in neuerer Zeit nun auch in Deutschland, wie zuvor in anderen Ländern immer leb-
hafter die Forderung äussert, das künstlerische Studium des Technikers wieder auf eine eingehendere
Betrachtung der natürlichen Formen zu lenken, so hat zu ihrer Erfüllung doch noch vieles zu geschehen;
es kann sogar nicht wundernehmen, wenn mit den Traditionen unserer nächsten Vergangenheit nicht so
rasch zu brechen ist. Dass sich unsere Künstler und Lehranstalten in ihrer Mehrzahl noch nicht genü-
gend mit der künstlerischen Betrachtung der Naturformen beschäftigenist eine Thatsache, die immer
wieder ausgesprochen werden muss, wenn sie gebessert werden soll. Sie kann weder dadurch ent-
kräftet werden, dass einzelne Meister kunstgewerblicher Gebiete," einzelne Architekten, namentlich
diejenigen, welche an die Überlieferung der mittelalterlichen Kunst anknüpfen, die Naturformen für ihre
Schöpfungen zu verwerten suchen, noch dadurch, dass die meisten einschlägigen Schulen das Natur-
studium auf ihrem Programme haben. Schon der Umstand, dass in den wenigsten handwerklichen
Werkstätten und Architekturateliers neben dem reichen traditionellen Vorbildermateriale ein Zeichen,
geschweige denn eine Sammlung zu erblicken ist, welche die Absicht der natürlichen Formbenutzung

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