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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0011
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bekundeten, ist dafür charkateristisch. Ebenso lehrt die Erfahrung, dass die Schüler unserer kunst-
gewerblichen und architektonischen Erziehungsanstalten häufig die wichtigsten natürlichen Vorbilder,
deren sich die überlieferten Stilformen bedienten, nicht kennen, zum wenigsten sich daraufhin nicht
angesehen haben. Dies kann man erfahren, wenn man dem Schüler die pflanzlichen Originale der
gebräuchlichsten Ornamentformen wie z. B. die Blätter und Blütenstände des Akanthus vorlegt, deren
stilistische Abwandlungen er im Unterricht von früh auf und jederzeit vor Augen gehabt und gezeich-
net hat: er hat die Pflanze in ihrer natürlichen Erscheinung- häufig noch gar nicht gesehen. Selbst die
Lehrer, wie der Verfasser an sich selbst erfahren hat, haben die, den überlieferten Kunstformen zu
Grunde liegenden Pflanzen in ihren Wachstumseigenschaften und Formen nicht in dem Masse an der
Natur beobachtet, wie es nötig wäre, um dem Schüler ein Bild von ihrer Anwendung und Wirkung im
Ornamente geben zu können. So unbegreiflich dies erscheinen mag, so kann dem Einzelnen nicht ein-
mal ein grosser Vorwurf daraus gemacht werden; liegt das ihm selbst oft empfindliche Unvermögen
eben in der einseitigen künstlerischen Erziehung, wrelche wir genossen haben.
Diese Missstände werden aber schon um deswillen gar nicht einmal empfunden, weil wir auch
in den überlieferten Formen die Wirkung, ja das Verhandensein natürlicher Vorbilder nicht genügend
beachten. So hört man z. B. von kunstgewerblichen Gelehrten die Zweifel an dem praktischen Werte
des Naturstudiums für den technischen Künstler bisweilen mit dem Einwande begründen, dass die an
vegetabilen Ornamentformen so reiche antike Kunst in weiser Beschränkung nur einen engsten Kreis
von Naturformen benutzt habe. Wer die vegetabilen Formen nach dieser Richtung nicht eigens verfolgt,
und wer nur die individuellen und Gesamtbilder der Pflanze im Ornamente sucht, der mag wohl zu der
Ansicht kommen, dass nur eine geringe Zahl von Blatt- und Blütenformen der Antike die Vorbilder ihrer
ornamentalen Formensprache gegeben habe. Wenn man ihre Schmuckformen aber im Zusammen-
hänge mit den vegetabilen Erscheinungen zu betrachten sich gewöhnt, wird man immer von neuem
überrascht, wie umfänglich und mit wie eingehender Beachtung ihrer Einzelformen und allgemeinen
Wachstumsbilder die antike Kunst die ganze Pflanzenwelt verwertet hat. Wählte sie auch nur eine be-
stimmte Zahl von Formen für gewisse Haupttypen des Ornamentes, zog sie z. B. den »Limbus« ihrer
Blattformen stilistisch-einheitlich auf den Spiritus des Akanthus ab, so ist die Zahl der Motive, nach
denen sie ihre Schmuckformen organisierte, geradezu unerschöpflich. Eine ähnliche Unterschätzung
des Einflusses der natürlichen Formen lässt die Betrachtungsweise der archäologischen Forschung auf
dem Gebiete der Architektur und ihren Schmuckformen erkennen, wenn sie der Mitwirkung der natür-
lichen Bilder bei Entstehung und Weiterbildung der Kunstformen im Verhältnis zu der historischen Ent-
wickelung ihrer Typen nicht genug Aufmerksamkeit schenkt.
Die Bedingung, dass der technische Künstler das Studium der natürlichen Formen pflegen muss,
nicht nur um selbst gesetzmässig und organisch erfinden und bilden, sondern auch, um die überlieferten und
seiner Unterweisung zu Grunde liegenden Kunstformen richtig erfassen und mit Verständnis weiter ver-
wenden zu können, ergiebt sich schon aus der Erkenntnis, dass die bestehende ornamentale Formen-
sprache ohne das Vorhandensein der natürlichen Vorbilder überhaupt undenkbar wäre. Mit dem
gleichen Rechte, mit welchem man vom Bildhauer und Maler die Kenntnis und das Studium des
menschlichen Körpers und aller Erscheinungen verlangt, welche in seinen Darstellungsbereich fallen, muss
man beim Architekten und Kunsthandwerker die Bekanntschaft der Vorbilder voraussetzen, deren sich
die tektonischen und technischen Künste bedienen. So wenig die Akademie jene Künstler für ihren

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