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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0012
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Beruf nur an den überlieferten Werken der Kunst: an den plastischen Bildwerken und den Gemälden
der Vorzeit zu erziehen vermag, sondern ihnen die natürlichen Formen selbst vorführen, den Körper
nach seinem anatomischen Bau und in seinen Massverhältnissen aus eigener Anschauung erkennen lehren
muss, so wenig kann die Erziehung des technischen Künstlers auf das organische Studium der Tier- und
Pflanzenformen verzichten, welche den Kunstformen zu Grunde liegen. Dass die Nachbildung der
Naturerscheinungen bei jenen Künstlern eine unmittelbare, bei diesen eine bedingte ist, kommt dabei
zunächst nicht in Betracht.
So wenig der Bildhauer die antike Statue als unmittelbares Vorbild für die Ausgestaltung der
eigentümlichen Forderungen seines eigenen Gedankens gebrauchen kann, sondern nur als ein analoges
und förderndes Beispiel, wie die Kunst eine Idee in der Plastik vollkommen verkörperte, so wenig ver-
mag der technische Künstler bei seiner eigentümlichen Aufgabe sich unmittelbar der überlieferten
Formen in ihrer bestimmten Sondererscheinung zu bedienen. Wie ferner auch der Bildhauer eine antike
Statue in ihrem Werte und ihrer Berechtigung überhaupt erst wirklich schätzen kann, wenn ihm die
Kenntnis der Anatomie und Proportionen des Menschen durch Studium zu eigen geworden ist, so kann
auch der technische Künstler die überlieferte Kunstform in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung erst er-
fassen, wenn er auch die Gestaltungsgesetze und Formen ihrer natürlichen Vorbilder beherrscht.
Haben es die technischen Künste infolge der Gleichartigkeit der menschlichen Bedürfnisse,
denen ihre Werke dienen, auch nicht mit einer so beweglichen Formensprache zu thun, wie die selb-
ständigen Künste der Malerei und Plastik, und müssen sie sich daher gewisser überkommener Typen
als der gefundenen entsprechendsten Ausdrucksformen ihrer Ideen fortdauernd bedienen, so entlässt
dieser Umstand den Künstler ebensowenig aus der Pflicht, immer wieder von neuem auf die, diesen
Typen zu Grunde liegenden natürlichen Erscheinungen zurückzugreifen. Denn nur durch dieses Mittel
ist auch innerhalb der Anwendung forterbender I7ormtypen die äusserliche Nachbildung und schema-
tische Erstarrung derselben zu verhüten und die, der jeweiligen Aufgabe vollkommen entsprechende
Verwertung derselben möglich. Je unmittelbarer die ornamentale Form auf der Wiedergabe einer
Naturerscheinung basiert, um so mehr ist der Künstler gezwungen, seine Stilform aus der Naturform
selbst von neuem herauszuschaffen und um so gefährlicher ist die blosse Nachbildung der überlieferten
Formen, welche ohne die Kenntnis des Wesens ihrer Vorbilder zu unverstandener Anwendung und leb-
loser Verflachung ihrer Formen führt.
Wenn nun trotz der sich in weitesten Kreisen bahnbrechenden Überzeugung von der Notwendig-
keit eines rationellen Naturstudiums auf dem Gebiete der technischen Künste, unsere Schulen
dieser Forderung noch mit Zweifeln oder mit einer gewissen Unsicherheit gegenüber stehen,
so liegt dies nicht sowohl in den Erziehungstraditionen derselben, als in manchen mehr oder minder
gehegten und begründeten Bedenken ihrer Leiter.
Das wesentlichste Bedenken, welches sich in dieser Beziehung im Kreise der kunstgewerblichen
Pädagogie äussert, ist auf eine gewisse Furcht zurückzuführen vor den Gefahren, welche in einem, so-
zusagen spekulativen Naturstudium liegen, vor den Gefahren der Heranziehung eines Naturalismus
und einer Willkür in den technischen Kunstübungen, welche ohne Rücksicht auf die unweigerlichen
stilistischen Bedingungen der Kunst, gebotene Schranken durchbrechen und das erworbene Gute unserer
Erziehung schädigen könnten, ohne etwas Besseres an seine Stelle zu setzen. Diese Befürchtung ist um
so erklärlicher, als die Schule sich bewusst ist, nur bis zu einem gewissen Grade dieser Gefahr entgegen

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