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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0013
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wirken zu können. Es liegt dies namentlich darin, dass unsere künstlerische Erziehung nicht mehr in
dem unmittelbaren Zusammenhänge mit der künstlerischen Praxis steht, wie in den Zeiten der Antike,
des Mittelalters und selbst der unserer nächsten Altvordern: in den Bedingungen unseres Fabrik-
betriebes und in den Bedingungen der künstlerischen Erziehung unseres heutigen Kunsthandwerkes. Die
Erziehung des Kunsthandwerkers in den mittelalterlichen Bauhütten und Meisterwerkstätten der Renais-
sance, in welchen der Lehrling durch die Mitarbeit an den gestellten Aufgaben und an der technischen
Handhabung der dafür gegebenen Werkstoffe künstlerisch ausgebildet wurde; der Umstand, dass sich
daher auch das Studium und die Verwendung der natürlichen Formen unter der Führung des Meisters
und den Traditionen der Schule immer im engsten Anschluss an die Bedingungen der Kunstformen,
ihrer Stoffe und deren Behandlungsweise vollzog, liess dem Schüler die stilistischen Forderungen der
künstlerischen Aufgaben schon von vornherein und durch die unmittelbare Praxis in Fleisch und Blut
übergehen und gab ihm damit auch einen festeren Halt und eine strengere Richtschnur für die Behand-
lung der natürlichen Vorbilder, als es der heutige Unterricht zu thun vermag.
Unsere kunstgewerblichen und anderen technischen Schulen, welche die theoretische von der
handwerklichen Unterweisung zu trennen gezwungen sind, können nur einen allgemeinen und in der
Hauptsache mehr ästhetischen Unterricht geben. Sie können den Schüler an der Hand der besten
Überlieferungen vorwiegend nur mit den Principien und Erscheinungen der künstlerischen Formbildung
bekannt machen, müssen deren technische Anwendung aber seiner Thätigkeit ausserhalb der Schule
überlassen. Diese Trennung des ideellen vom praktischen Erziehungsteile (deren allgemeine Bedenk-
lichkeit man an grösseren Kunstgewerbeschulen durch Errichtung von Fachklassen zu begegnen sucht)
schneidet von vornherein die Möglichkeit ab, dem Schüler in eigener Arbeit die technisch-materiellen
Gebote der Naturformverwendung nahe zu bringen. Und darin liegt allerdings nicht nur eine wesentliche
Hinderung, sondern auch eine gewisse Gefahr des Naturstudiums.
Dieselbe Gefahr liegt aber auch in der Mitteilung der überlieferten Kunstformen an den Schüler
und so gut wir trotz dieser Gefahr und trotz der Verirrungen, die wir beständig aus der unverstandenen
Anwendung traditioneller Kunstformen entspringen sehen, uns derselben doch als eines unentbehrlichen
Erziehungsmittels weiter bedienen müssen, so haben wir ebensowenig einen Grund, das nicht minder-
wertige Erziehungsmittel des Naturstudiums nur darum beiseite zu lassen, weil es vielleicht schaden könnte.
Mit demselben Rechte, mit welchem wir unter unseren jetzigen Unterrichtsverhältnissen durch ein ver-
ständiges und zweckmässiges Studium der überlieferten Formen auch ohne die Mithilfe der technischen
Praxis den Schüler vor ihrer missverstandenen Anwendung zu bewahren hoffen, wird auch das technische
Naturstudium durch eine richtige Behandlung bis zu demselben Grade gefahrlos gemacht werden können.
In der Frage, wie das Naturstudium zu gestalten sei, um jener Gefahr zu begegnen, herrscht bei
unserer Pädagogie nun eine gewisse Unsicherheit. Der Umstand, dass die Mehrzahl der technischen
Kunstschulen dieses Studium bereits mehr oder minder berücksichtigt, zur Zeit aber noch keine recht
sichtbaren Erfolge desselben bei uns zu spüren sind, macht sie bedenklich. Ist es aber überhaupt mehr
als begreiflich, dass ein unserer heutigen Jugend nicht mehr gewohntes Anschauungsvermögen und
eine künstlerische Vorstellungskraft der natürlichen Formerscheinungen nicht in Kürze und leicht,
sondern erst sehr allmählich und mit Mühe wieder zurückgewonnen werden können und ist es dafür
eine notwendige Voraussetzung, dass vor allem unsere allgemeine Schulbildung, welche das dafür
nötige Hilfsmittel des Zeichenunterrichtes noch so sehr vernachlässigt, die Wiedererweckung dieses
 
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