Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0018
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Abhängigkeit
der künstlerischen
Gestaltungsele¬
mente von den
natürlichen
Bildungsgesetzen.

technischen Künsten das ganze formale Denken des Menschen von den Naturerscheinungen und ihren
Gesetzen abhängig.
In den Naturformen wie in den technischen Gebilden finden wir zwei Momente enthalten: das
sichtbare Moment der äusseren, stereometrischen oder planimetrischen Formen, welches sich in der
Oberfläche der Körper ausdrückt und das Schema der Formanordnung, sowie die Gestaltungs-
elemente, welche sich aus der Gruppierungsart der Formen ergeben. Das Anordnungsschema kann
sehr verschieden sein, im wesentlichen bezieht es sich aber entweder auf einen Mittelpunkt (das
Centrum) oder auf Mittellinien (Achsen) oder auf Schnittflächen (Medianen); es kann all-
seitig strahlenförmig (centrale Anordnung) oder zweiseitig: symmetrisch oder auch bloss ebenmässig
erscheinen. Aus diesen Gruppierungselementen ergiebt sich die Erscheinung der gegenseitigen Mass-
verhältnisse: die Proportion und aus dieser wieder die Richtung der Formen.
Es ist hier nicht der Platz, auf das Wesen dieser Gestaltungselemente und ihr Zusammenwirken
in den Erscheinungsformen einzugehen und sei deshalb auf die schon im Vorwort herangezogenen
Prolegomena Sempers verwiesen, welche dieses Thema vom Standpunkte des Künstlers aus in an-
schaulicher Weise behandeln.
In allen Fällen ist der Ausgangspunkt unserer technischen Gebilde: die geometrische Grundlage
ihrer körperlichen Erscheinung in den Gesetzen eingeschlossen, welche den Gestaltungselementen der
Naturerscheinungen zu Grunde liegen: die Natur giebt uns die Normen für die Disposition unserer
Kunstwerke von ihrem einfachsten Schema bis zu den entwickeltsten Anordnungen ihrer Formen. Die
unvollkommenen und rohen Hervorbringungen frühester Kulturstufen folgen den natürlichen Ge-
staltungsgesetzen ebenso, wie die vollendetste Kunstform. Die centralen und symmetrischen Grup-
pierungen, die Gedanken der Achsenbildungen und Richtungen, die proportionellen und rhythmischen
Gliederungen, welche die natürlichen Formen aufweisen, kehren in allen Werken der technischen Künste
wieder. Diese Beobachtung und Nachbildung der natürlichen Formanordnungen ist eine völlig unwill-
kürliche, da es dem Kunstsinne des Menschen unmöglich ist, sich mit seinem Erfinden ausserhalb der
Gesetze zu stellen, welche ihm in seinem Leibe, seinen Organen und dem durch sie bedingten Denken
förmlich eingewachsen sind.
Die Vervielfältigung und Steigerung der Gestaltungselemente in den natürlichen Erscheinungen
von der einfachsten Lagerung der Atome um einen Punkt: das Centrum (wie ihn die Bildung der
Weltkörper in der Kugel zeigt) zu der strahlenförmigen Gruppierung der Formen um eine gerade
Achse (wie wir sie in Krystallen, in der Horizontalprojektion der Pflanze finden); die fortschreitende
Komplizierung der symmetrischen, proportionellen und Richtungsmomente ausgebildeterer Organismen
bis zu den vermehrten und in Kurven sich bewegenden Achsen, zu den verschiedenen Medianen und
zu den verwickelten Anordnungen, welche in der beweglichen Lebewelt: in den Tieren und im
Menschen zu Tage treten — lässt sich auch mit dem Wachsen der Kultur in den Hervorbringungen
des Menschen überall verfolgen.
Selten enthält eine Form nur eine Gruppierungserscheinung und dann nur die einfachste, die
centrale (wie sie der Kugelform sich nähernde sphärische Gebilde aufweisen). In den meisten Kunst-
formen wirken die genannten Bildungselemente aber zusammen, indem dann eines dieser Elemente
gewissermassen die Führung der anderen übernimmt. So beherrscht die centrale Gruppierung z. B.
Bauwerke, deren gedankliche Bedeutung wie beim Amphitheater und Rundtempel in ihrem Mittelpunkte

2
 
Annotationen