Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0019
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
liegt, während dem Wesen anderer Gebäude, wie z. B. der christlichen Basilika die symmetrische
Anordnung als führendes Moment entspricht. So sind ebenfalls die ringförmigen Bildungen der
Armspangen und Halsketten, obwohl sie ihr Centrum erst durch die menschlichen Glieder empfangen,
Formen centralen Charakters, ebenso alle Rahmengebilde, mögen sie als umlaufende Bordüre oder als
Bilderrahmen ein Mittelstück dauernd umfassen oder wie Thür- und Spiegelrahmen den Menschen oder
sein Bild nur zeitweise umschliessen. Die Gefässformen vergegenwärtigen dagegen vom flachen Teller
bis zum Kessel und zum langhalsigen Gussgefässe in zunehmendem Masse die Verbindung der Rich-
tung und Proportion mit centraler Anordnung. Der jüdische Tempelleuchter mit seinen nur in einer
vertikalen Ebene sich entwickelnden Armen markiert die Symmetrie neben der Richtung und
Proportion, der antike Bronzekandelaber mit seinem unverzweigten Schafte dagegen vorwiegend die
Richtung, ausgesprochen centrale Anordnung aber der mittelalterliche Kronleuchter in seinen allseitig
ausstrahlenden Armen.
Wie in einzelnen Kunstwerken finden wir das wechselnde Vorherrschen einzelner Gestaltungs-
elemente auch in ganzen Stilperioden in Bezug auf die Bauten derselben und zwar sichtbar fortschreitend
von einfach centralen Anordnungen zu vermehrter Anwendung der symmetrischen, proportionalen und
Richtungselemente. Früheste bauliche Denkzeichen, wie Grabhügel, Steinkreise, Pyramiden, sind häufig
einfachste centrale Anlagen; auch den Tempeln der Antike liegen in den rahmenartigen Formen, die
in ihren Grundrissen, verschiedenen Schnitten, in der Zusammenordnung von Untersatz, Säule und
Gebälk, in den Teilungen ihrer Decken, Wände und Fussböden, in der quadratischen oder recht-
eckigen Gestaltung ihrer Thiiren, Kassetten, Metopen allerorts wiederkehren, centrale Anordnungs-
gedanken zu Grunde. Mit der Weiterbildung des Gewölbes, namentlich aber mit Aufnahme des Spitz-
bogensystemes, mit Betonung von Turm und Dach, treten dagegen in den Kultbauten des Mittelalters
die Elemente der Richtung und Proportion, mit der Orientierung des Grundrisses durch Türme und
Apsiden, mit der Anordnung der Querschiffe in Form eines römischen Kreuzes: Richtung und Sym-
metrie in vermehrte Erscheinung, während das centrale Gestaltungsprinzip in gleichem Masse zurück-
tritt. Hand in Hand mit diesen Ideen der ganzen Bauten geht das einzelne Ornament derselben.
Das Füllungsornament des antiken Rahmenwerkes zeigt die centralen Formen der Sterne und Rosetten.
Ringförmig, wie die Kette den Menschenhais, umgeben die Anthemienbänder des Frieses den ganzen
Tempelbau und die Blattreihungen das einzelne Kapitell, während das vorwiegende Richtungselement
der Gothik die aufstrebenden Organe der Pflanze für die Dekoration ihrer Bauten heranzieht.
So machte der Mensch je nach seinen Zwecken und Bedürfnissen und je nach den besonderen
Gedanken, die er zum Ausdruck bringen wollte, bei seinen Bauten wie bei den Werken der Kleinkunst,
vorwiegend bald von dem einen, bald von dem andern Bildungselemente der natürlichen Erscheinungen
Gebrauch, immer blieb er aber in absoluter Abhängigkeit von denselben. Wie weit diese Abhängigkeit
geht, sehen wir am deutlichsten in den Gegenständen, welche unmittelbare Beziehungen zu seiner Person
haben. Je näher dieselben seinem Gebrauche, seiner Handhabung und körperlichen Berührung stehen,
um so mehr sind sie gezwungen, den Gestaltungselementen zu folgen, welche in seinem eignen Leibe
enthalten sind. Auf diese Weise spricht sich die ungleichseitige Erscheinung, welche im Gegensätze zur
symmetrischen Anordnung der beiden Körperhälften des gerade von vorn oder von hinten gesehenen
Menschen, in der Profilansicht desselben enthalten ist, in seinem Handwerkszeuge und Gerät und in
zunehmendem Mass in seinem Möbelwerke, am meisten aber in demjenigen, welches am engsten

3
 
Annotationen