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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0020
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Abhängigkeit
der technischen
Kunstwerke
von den äusseren
Formen der
Naturerschei-
nungen.

Zweckform und
Kunstform.

mit ihm in Verbindung kommt: in allem Sitzwerke aus. Im Stuhle bilden wir am vollständigsten die
Anordnung einer Rücken-und Vorderseite, die Proportionen und die Richtungen des menschlichen Leibes
nach. Diese Beziehungen kehren aber auch in seinen architektonischen Werken wieder; hängt doch
die ganze bauliche Anordnung und Ausstattung des Hauses mit seiner Körper- und Bewegungsrichtung
mit den Proportionen und der einseitigen Symmetrie des Menschen mehr oder weniger unmittelbar
zusammen. So ist z. B. in der gothischen Kirche nicht nur im Aufrisse des Baues die Verschiedenheit
der Schnitte des menschlichen Körpers enthalten, sondern auch im Grundrisse derselben klingt in den
vorgeschobenen Türmen, in den Querschiffen und dem runden Abschlüsse der Apsis die Vertikal-
projektion des Menschen wieder.
In gleichem Masse wie in Bezug auf die Anordnung ist das Gestaltungsvermögen des Menschen
in den äusseren Elementen seiner technischen Kunstwerke: in der linearen und Flächen-, in der plasti-
schen und farbigen Erscheinung derselben von den natürlichen Formen abhängig. Ganz abgesehen
davon, dass gewisse Naturerzeugnisse schon unmittelbar als Gebrauchsgegenstände benutzt und ihre
Formen dann auch für die künstlichen Bildungen beibehalten wurden, macht sich ihr Einfluss auf die
Gestalt der menschlichen Erzeugnisse so allgemein sichtbar, dass es der Beispiele für ihre bildliche
Übertragung kaum bedarf. Es giebt überhaupt aber kein Formenelement in der Kunst, welches nicht
bereits irgend wie in der Natur vorgebildet läge. Die Erscheinungen aller Naturreiche, von den geo-
metrischen Formen der Krystalle bis zu den Lebewesen des Pflanzen- und Tierreiches zieht der Mensch
in das Bereich seiner Kunst, seines Ornamentes. Ebenso wie die vollständigen Figuren derselben bildet
er alle Einzelformen der faunischen und vegetabilen Schöpfung nach. Nicht minder zieht er aber auch
seine eignen Erzeugnisse, z. B. die Erscheinungsformen seiner textilen Manufakte in den Kreis seiner
Vorbilder. Selbst dann, wenn er sich in den Formen seiner Kunstwerke nicht unmittelbar an die natür-
lichen Bildungen anschliesst, wenn sich seine Schöpfungen in völlig freien Ideen und in den abgezogen-
sten Formen zu bewegen scheinen, bleibt seine Fantasie von der ihn umgebenden Erscheinungswelt so
erfüllt, dass er auch ohne die Absicht einer Nachahmung von ihren Bildern unwillkürlich gebunden, von
ihren Formen- und Farbenelementen unweigerlich beeinflusst wird.
Um uns aber die Grenzen genauer festzustellen, welche dieser Beeinflussung gezogen sind,
müssen wir uns zuvor das Wesen des technischen Kunstwerke? und seine materiellen Bildemittel kurz
ins Gedächtnis rufen.
Wir können am Kunstwerke, mag es dem Gebiete der Architektur oder dem des Kunsthand-
werkes angehören, zwei Formenelemente auseinanderhalten: die konstruktiven oder Werkformen,
welche für die Bestimmung des Gegenstandes, zur Erreichung seines Zweckes notwendig sind und die
wir daher Zweckformen nennen wollen, und die, diese konstruktiven Formen schmückenden, die
ornamentalen, oder mit einem Worte: die Kunstformen. Dabei ist es gleich, ob die letzteren ihrer
Erscheinung nach in derselben Körpermasse enthalten sind, aus welcher die Zweckform besteht, und
ob sie sich mit derselben vollständig decken (wie denn überhaupt beide Formenreihen in innigstem
formalen und gedanklichen Zusammenhänge stehen müssen) oder ob sie die Zweckform in gesonderter
Form und in anderem Stoffe umkleiden oder irgendwie angefügt sind; mögen sie sich darstellen als
plastische Gebilde oder auch als blosser Flächenschmuck oder sogar als negative (eingeschnittene)
Formen des Werkkörpers.
Wenn nun selbst die Zweckformen in ihren allgemeinsten Formelementen von den natürlichen

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