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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0021
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Erscheinungen mehr oder minder abhängig bleiben, so müssen sie in den Formen für ihre besondere
Bestimmung schon um desshalb in den meisten Fällen eine freie Erfindung des Menschen sein, weil sie
eigentümlichen Bedürfnissen und Ideen entsprungen sind, für welche die, ihre eigenen Zwecke ver-
körpernden Naturformen an und für sich noch nicht das äussere Schema bieten können. Die Kunst-
formen stehen dagegen immer unter dem Einflüsse der Erscheinungsformen.
Dass es die Zweckformen allein sind, welche das praktische Ziel des technischen Kunstwerkes
und die konstruktiven und statischen Leistungen innerhalb desselben erfüllen und dass sie der Kunst-
formen dazu nicht benötigen, bedarf kaum des Nachweises: Drehen wir die Kanelluren einer Säule ab,
schälen wir den Blattkranz ihres Kapitelles herunter, lösen wir ihre Voluten, schneiden wir ihre Basis,
völlig ab — der reine Cylinder trägt den Balken genau so gut, wie die in ihre Kunstform eingekleidete,
sich verjüngende Säule. Statt der Löwentatzen unterstützt jede gedrehte Scheibe den Schaft des
Kandelaber und so wenig wie seiner Rippen bedarf er der Form des Blütenkelches, um die Kerze zu
halten. Das gepunzte Bandornament, welches den Kupferkessel umschliesst, leistet keinen Widerstand
gegen den Druck seiner Füllung. Das wirklich Leistende (was auch nicht durch die Kunstformen ge-
stört werden darf) ist in allen Fällen nur die Zweckform — die Kunstform unterstützt ihre Leistung
nicht einmal. Die Riffelung der Säule kann durch die Verringerung des Säulenumfanges ihre Kraft
nur schwächen, nicht vermehren, die ausserhalb ihres Cylinders liegenden Massen der Basis, der frei aus-
ladende Blätterschmuck des Kapitelles sind für die Stützwirkung aber ganz gleichgültig. Im Gegenteil
müssen solche Kunstformen häufig noch gegen die Wirkung der Kräfte geschützt werden, welche die
Zweckformen zu bewältigen haben. Aus diesem Grunde werden oft künstliche Zwischenräume geschaffen,
welche ausladende Kunstformen (wie z. B. die des Kapitells und des Kymation) vor ihnen gefährlicher
Belastung bewahren.
Wenn wir aber allerwärts finden, dass die Kunstformen nicht nötig sind, um die Bedingungen
für die jeweilige praktische Bestimmung des Kunstwerkes zu erfüllen, so wissen wir, dass es andere
Gründe waren, welche sie seit frühesten Zeiten anwenden und mit der Steigerung der allgemeinen
Kultur immer reicher und absichtlicher sich entwickeln liessen. Wir müssen uns aber auch diese Gründe
wieder vergegenwärtigen, wenn wir uns die Einwirkung der Naturformen auf, und ihre Bedeutung für
die Kunstformen völlig zum Bewusstsein bringen wollen.
Indem der Mensch die reine Zweckmässigkeitsform mit der Kunstform zu durchdringen suchte,
wirkte er vornehmlich nach drei Richtungen und zwar auf die Verschönerung, die Belebung und
Verständlichmachung seiner Schöpfung.
Der erste Kunsttrieb, der die Entstehung von Kunstformen im Gefolge hatte, ist wohl zurück-
zuführen auf die Liebe zum Schmuck, der sich schon bei den ersten Urmenschen und heute noch bei
wilden Völkerstämmen bemerkbar macht. Er trat vielleicht zuerst in Erscheinung in der wenn auch
rohen Schmückung des eignen Leibes, sei es durch Gebrauch von umgehängten oder den Gliedern
eingefügten glänzenden oder farbigen Naturprodukten: Perlen, Federn, Muscheln, Steinen oder durch
eine Art symmetrischer Bemalung oder Tätowierung der Haut.
Der Gedanke, sich durch dieses schmückende Beiwerk auszuzeichnen, dem Feinde Achtung,
dem anderen Geschlechte Liebe einzuflössen, überhaupt der einwohnende Trieb, das Leben freudiger
zu gestalten — dergleichen instinktive Triebe mögen die ersten Merkmale eines erwachenden Kunst-
gefühls hervorgerufen haben. So begann er auch seine ersten aus Naturprodukten bestehenden Gefässe,

Das Wesen der
Kunstformen und
ihre Wirkung:

als Schmuck der
Zweckform.

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