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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0038
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Die natürlichen
Erscheinungen als
Vorbilder ein-
zelner Glieder der
Kleinkunstwerke.

Die Anwendung
natürlicher
Erscheinungen als
Gleichnisse für
Funktionen.

Die Vorbilder
als Symbole für
die construktiven
Verbindungen
in den Gebilden
der Kleinkunst.

harten Schalen noch heute als Füll- und Trinkgefässe benutzt werden; die Eiformen, welche als Prototyp
der Behälter in Kesseln, Eimern, Amphoren, Urnen u. s.w. aller Stilperioden wiederkehren; das Euter
des Säugetiers: die Urform des Trichtergedankens; die, Trink- und Gussgefässe vorbildenden Hörner-
und Schneckenformen sind dauernd als zweckmässige und bezeichnende Vorbildern in die Kleinkunst
übernommen worden; nicht minder sind auch für die Typen der Gefässe die natürlichen Einzelformen
der Blumen und Knospen von ihren flachsten teller- und schüsselartigen bis zu den gestreckten becher-,
kelch- und röhrenartigen Formen von weitestem Einflüsse gewesen, wie in einzelnen Fällenjsogar die
Gesamterscheinung der Pflanze im Aufbau des Kunstwerkes enthalten ist.
Vor allem stehen aber die einzelnen Glieder des Kunstwerkes oft in unmittelbarstem Zusammen-
hänge mit den Naturformen. Die Füsse, Bäuche, Hälse, Mündungen, Ausläufe, Schnauzen; die Henkel,
Bügel, Deckel, Knöpfe der Gefässe, die Handhaben, Stiele, Griffe der Geräte: Waffen, Ess- und Hand-
werkszeuge ; die Haften, Spangen, Haken, Ösen, Agraffen des Kleider- und Schmuckwerkes; die Bein-
und Fussformen, Lehnen; die Griffe der Zug- und Tragringe des Mobiliars, die Arme, Schäfte, Dillen
der Standgeräte und Beleuchtungskörper — alle derartige Glieder unserer Kleinkunstwerke gestalten
wir in ihren Formen und für ihre verschiedenen Zwecke ähnlich wie in der Architektur, aber in noch
viel weiterem Umfange mit Hilfe der Bilder unserer Erscheinungswelt aus, indem wir in gleicherweise
auch den konstruktiven Zusammenhang des Kunstwerkes und die gegenseitigeVerknüpfung
seiner Glieder, die Gedanken ihrer Festigkeit und gegenseitigen Wirkung, ebenso aber auch
ihre jeweiligen Funktionen durch diese Ausdrucksmittel künstlerisch sichtbar zu machen suchen.
Aus den Brüsten der Fontänenfiguren oder dem Rachen des quellhütenden, heiligen Löwen ent-
springt das Lebenselement des Trinkwassers, Pantherköpfe und Drachen speien das Traufwasser der
Sima und Dachrinne aus; die Ausgüsse der Gefässe nehmen die Formen von Fischschnauzen an; das
römische Trinkhorn läuft in einen Rehkopf aus, der den Weinstrahl aus dem hochgehaltenen Gefässe
in dünnem Strahle nach nnten entsendet, während sein Geweih sich als Henkel dem oberen Gefäss-
rande verbindet. Das Lavabo in der Sakristei des Klosters, dem ein Delphin das Waschwasser zuführt,
bildet die Pilgermuschel und die Schale des marmornen Prunkkrater die Blume der Komposite mit
ihrem Kranze von Strahlenblüten nach. Der flache Deckel des Hohlgefässes schmückt sich mit der
schildförmigen Grundblätterrosette, sein Knopf kleidet sich in die Formen der Zapfen und Kätzchen,
der Gefässbauch ruht im Blütenkelche der Pflanze; dem Boden des heiligen Nieleimers: der Situla fügt
sich die Lotosblume an und dem Fusse der Hydria entspringende Blumenblätter umschliessen den
unteren Teil ihres Hohlraumes. Der Griff der Waffe wird als Kopf und Hals des Adlers, mit Hilfe von
Knospenformen werden Agraffen und Stiele der Geräte gebildet; die Handhabe des antiken Spiegels
formen Genien, welche mit ihrem Kopfe das Oval des Spiegels tragen und mit den Voluten ihrer
erhobenen Flügel beiderseitig halten; Blumen tragen das Öllämpchen des antiken und halten die Kerze
des mittelalterlichen Leuchters.
Beweisen die meisten dieser Beispiele wie die Funktion und der Gedanke der Glieder durch die
angewendeten Bilder zum Ausdruck kommt, so finden wir sie gleichzeitig auch für ihre Verbindung und
Anheftung wirksam. In wie mannigfaltiger Weise z. B. die Antike allein den Henkel mit dem Gefäss-
körper symbolisch verband, giebt schon eine Vorstellung von dem konstruktiven Ausdrucke, welcher in
den angewendeten Bildern liegt. Bisweilen enthält ihn das für die Form gewählte Bild schon selbst,
z. B. die Schlange, welche mit ihrem Gebiss den Gefässrand fasst und durch ihre anschliessenden

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