HANS-WERNER GOETZ
Gesellschaftliche Neuformierungen
um die erste Jahrtausend wende?
Zum Streit um die »mutation de l'an mil«
»Wenden« sind - nicht nur aus immer noch aktueller deutscher Sicht - seit
einiger Zeit ein Lieblingsbegriff und ein beliebtes Thema auch der Ge-
schichtswissenschaft1. Unendlich viel ist beispielsweise über den Wandel von
der Antike zum Mittelalter2 wie auch vom Mittelalter zur Moderne3 diskutiert
worden, mit einer enormen Spannbreite an Daten und Gründen. In jüngerer
Zeit ist nun zusätzlich die Jahrtausend wende ins Bewusstsein gerückt, und
zwar nicht zufällig um so intensiver, je mehr wir uns der zweiten Jahrtau-
sendwende genähert haben. (Als »Aufbruch ins zweite Jahrtausend«, wie im
Titel dieses Bandes, verheißt sie zudem den Beginn einer neuen, fortschritt-
lichen Zukunft.) Jahrtausend wenden erreichen hier offenbar eine ganz be-
sondere Qualität, obwohl säkularisierte Historiker eigentlich wissen müssten,
dass der historische Wandel erstens zwar unabdingbar an den Zeitablauf,
nicht aber an bestimmte Datierungen geknüpft und dass Geschichte zweitens
immer ein Zusammenspiel von Wandel und Kontinuität ist. In der Ge-
schichtswissenschaft ist hier ein grundlegender Unterschied zwischen der
deutschen und der französisch-westeuropäischen Forschung festzustellen.
Dieser Unterschied soll Thema meines historiographischen Beitrags sein, der
sich mehr an der Forschung über die Wendezeit als an dieser selbst orientiert.
Bezeichnend für die deutsche Forschung ist der Blick auf den politischen
Wandel, der sich mit Herrschergestalten verknüpft, wie das zuletzt durch den
von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter herausgegebenen Sammel-
1 Vgl. PETER Segl, Zeitenwenden - Wendezeiten. Eine Einführung, in: Zeitenwenden - Wen-
dezeiten. Von der Achsenzeit bis zum Fall der Mauer, hg. von DEMS. (Bayreuther Histori-
sche Kolloquien 14), Dettelbach 2000, S. 1-35.
2 Vgl. die ausführliche Zusammenstellung der vielfältigen Theorien bei ALEXANDER
Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt,
München 1984. Maßgeblich für den neueren Forschungsstand sind seither die zahlreichen
Bände der Reihe »The Transformation of the Roman World«, Leiden 1997ff.
3 Vgl. STEPHAN Skalweit, Der Beginn der Neuzeit (Erträge der Forschung 178), Darmstadt
1982; ERNST Pitz, Der Untergang des Mittelalters. Die Entstehung der geschichtlichen
Grundlagen Europas in der politisch-historischen Literatur des 16.-18. Jahrhunderts, Berlin
1987; Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt.
Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, hg. von
PETER Segl, Sigmaringen 1997. Zum Problem der Epochenwende: FlANS-WERNER GOETZ,
Das Problem der Epochengrenzen und die Epoche des Mittelalters, in: ebd., S. 163-172.
Gesellschaftliche Neuformierungen
um die erste Jahrtausend wende?
Zum Streit um die »mutation de l'an mil«
»Wenden« sind - nicht nur aus immer noch aktueller deutscher Sicht - seit
einiger Zeit ein Lieblingsbegriff und ein beliebtes Thema auch der Ge-
schichtswissenschaft1. Unendlich viel ist beispielsweise über den Wandel von
der Antike zum Mittelalter2 wie auch vom Mittelalter zur Moderne3 diskutiert
worden, mit einer enormen Spannbreite an Daten und Gründen. In jüngerer
Zeit ist nun zusätzlich die Jahrtausend wende ins Bewusstsein gerückt, und
zwar nicht zufällig um so intensiver, je mehr wir uns der zweiten Jahrtau-
sendwende genähert haben. (Als »Aufbruch ins zweite Jahrtausend«, wie im
Titel dieses Bandes, verheißt sie zudem den Beginn einer neuen, fortschritt-
lichen Zukunft.) Jahrtausend wenden erreichen hier offenbar eine ganz be-
sondere Qualität, obwohl säkularisierte Historiker eigentlich wissen müssten,
dass der historische Wandel erstens zwar unabdingbar an den Zeitablauf,
nicht aber an bestimmte Datierungen geknüpft und dass Geschichte zweitens
immer ein Zusammenspiel von Wandel und Kontinuität ist. In der Ge-
schichtswissenschaft ist hier ein grundlegender Unterschied zwischen der
deutschen und der französisch-westeuropäischen Forschung festzustellen.
Dieser Unterschied soll Thema meines historiographischen Beitrags sein, der
sich mehr an der Forschung über die Wendezeit als an dieser selbst orientiert.
Bezeichnend für die deutsche Forschung ist der Blick auf den politischen
Wandel, der sich mit Herrschergestalten verknüpft, wie das zuletzt durch den
von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter herausgegebenen Sammel-
1 Vgl. PETER Segl, Zeitenwenden - Wendezeiten. Eine Einführung, in: Zeitenwenden - Wen-
dezeiten. Von der Achsenzeit bis zum Fall der Mauer, hg. von DEMS. (Bayreuther Histori-
sche Kolloquien 14), Dettelbach 2000, S. 1-35.
2 Vgl. die ausführliche Zusammenstellung der vielfältigen Theorien bei ALEXANDER
Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt,
München 1984. Maßgeblich für den neueren Forschungsstand sind seither die zahlreichen
Bände der Reihe »The Transformation of the Roman World«, Leiden 1997ff.
3 Vgl. STEPHAN Skalweit, Der Beginn der Neuzeit (Erträge der Forschung 178), Darmstadt
1982; ERNST Pitz, Der Untergang des Mittelalters. Die Entstehung der geschichtlichen
Grundlagen Europas in der politisch-historischen Literatur des 16.-18. Jahrhunderts, Berlin
1987; Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt.
Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, hg. von
PETER Segl, Sigmaringen 1997. Zum Problem der Epochenwende: FlANS-WERNER GOETZ,
Das Problem der Epochengrenzen und die Epoche des Mittelalters, in: ebd., S. 163-172.