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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Nr. 2
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Vetterlein, Ernst Friedrich: Unkonstruktive Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.20726#0080
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Unkonstruktive Kunstformen

fühlbar machen. Ein Tempel soll erhabene Ge-
fühle wecken; ein Theater mehr edel-heitere; ein
Gerichtsgebäude ernste, strenge. Ein Wohnhaus
soll „wohnlich" erscheinen, d. h. das Gefühl der
Behaglichkeit und Zweckmässigkeit erwecken. Also
Gefühle und nur Gefühle! Die Träger solcher
Gefühlsäusserungen sind die Bauformen. Wir bilden
Kontraste, die die Abstumpfung der Gefühle im Be-
schauer verhindern und ihm die Lust am Beschauen
erwecken oder erhalten sollen. Wir unterbrechen
allzu langes oder reihen kurze Motive zu langen
Bändern und Friesen aneinander. Wir können die
Fenster übereinander oder, auf Gesimse aufgereiht,
nebeneinanderkuppeln. Alles um das Beschauen
in bestimmte Gesetze zu bringen. Damit wird das
Beschauen aus einer grossen Einheit zerlegt in ein
Nacheinander und Nebeneinander. Ein im Grunde
beim Anblick gleichzeitiges wird in einen zeit-
lichen Rhythmus zerlegt. Denn wir folgen mit den
Augen instinktiv den Linien, Bändern und Kanten.
Wir betasten gewissermassen mit den Augen das
Geschaute. Dabei empfinden wir eine Unter-
brechung, wenn die Leitform Widerstände durch
anders geartete Glieder aufweist. Wir fühlen die
Rauhigkeit der Bosse, die Glätte der Fläche, die
Kühle des Eisens und die Wärme des Holzes.
Wenn die bei solchem Abtasten auftretenden Ge-
fühle angenehm sind, so sagen wir: das ist schön.
Erst wenn alle Gefühlsrhythmen gewissermassen zu
einem abschliessenden Schlussakkord geführt sind,
haben wir die Empfindung der Vollendung. In
diesem Sinne können Formen wie z. B. an sich
unkonstruktive Dachreiter zu wichtigen ästhetischen
Notwendigkeiten werden. V
V Bei dieser Tätigkeit des Beschauens, bei der
wir also die Gefühle nachfühlen, die den Schöpfer
des Werkes beim Gestalten beseelten, spielt die
Konstruktion eine wichtige Rolle, indem sie näm-
lich das Gefühl der Sicherheit erwecken oder
besser noch: das Gefühl der Unsicherheit ver-
meiden muss. Denn in dem Augenblick, in dem
wir ein Gefühl der Unsicherheit haben, wenn wir
fragen müssen: Kann denn das halten? in diesem
Augenblick fangen wir an zu überlegen, werden
wir ängstlich. Die Gefühlsarbeit ist unterbrochen, die
Illusion zerstört, die uns der Anblick des Bau-
werkes erweckt hatte. Unsicher wirkende Kon-
struktionen sind also der Todfeind des künstle-
rischen Mit- und Nachempfindens. Eine Kon-
struktion erscheint nur dann an ihrem Platze schön,
wenn sie sicher, solid und selbstverständlich
erscheint. Denn dann sehen wir über ihre statisch-
bauliche Funktion hinweg und bleiben frei zum
Geniessen der zu erweckenden Gefühle. V

V Es kann deshalb nicht die Aufgabe der Bau-
form sein, die Konstruktion sichtbar zu machen
und sie als Endzweck der Baukunst auszugeben.
Dieser bleibt die Erweckung der Wiedergabe der
Gefühle, die den Künstler beim Schaffen geleitet
haben. Je nach Art des Materials kann nun die
Konstruktion mehr oder weniger sichtbar werden;
wie aus dem obigen hervorgeht, nicht als Wesen
der Kunst, sondern als ihr Träger. Eine dem Ma-
terial widerstrebende Form wird immer leicht
Nebengedanken und Widersprüche im Beschauer
erwecken, die die Kunstempfindung vernichten.
Die alten Fachwerksbauten, namentlich der go-
tischen Zeit, sind ausserordentlich konstruktiv, aber
ihr künstlerischer Reiz ist auch hier darin zu er-
blicken, dass die konstruktiven Details zum Träger
interessanter Kontrastwirkungen zwischen lager-
haften Gesimsen resp. Geschossen und vertikalen
Stützen benutzt und die Gesamtverhältnisse har-
monisch zum Ausklang gebracht sind. Man kann
mit denselben Konstruktionsdetails auch nüchterne
oder hässliche Bauwerke herstellen! Beim Eisen
treten wieder andere Details zu Tage. Ein Eiffel-
turm ist nicht deshalb schön, weil er gut konstruiert
ist, sondern weil die Eisenstäbe klare und interes-
sante Linienführungen aufweisen, die in uns das
Gefühl mühelosen Aufsteigens und dabei
soliden Standes erwecken, vergleichbar den herr-
lichen Linien eines gotischen Domes. Andrerseits
aber gibt es viele, sehr konstruktive Eisenbauten,
Brücken, Markthallen und Bahnhöfe, die trotz der
richtigen Konstruktion hässlich erscheinen. V

V Die einseitige Betonung des Konstruktiven, selbst
des Symbolisch-Konstruktiven,erscheint mir deshalb
nicht die richtige Grundforderung der Baukunst
zu sein. Die Bauformen haben vielmehr den Sinn,
Gefühle zu erwecken, die mit dem Wesen des
Bauwerks zusammenhängen. Die Konstruktion er-
scheint nur soweit als Träger der Kunst, soweit
sich ihre Formen den höheren Absichten des Bau-
künstlers anpassen. Eine aufdringlich sicht-
bare Konstruktion stört den Kunstgenuss ebenso
sehr wie eine offenkundig fehlende oder wider-
sinnige. Auch direkt unkonstruktive Formen, wie
z. B. die anfangs erwähnten Konstruktionsw i d er-
sprüche, können zur Kunstform werden, wenn
sie eben in den Dienst höherer Ideen oder künst-
lerischer Absichten gestellt werden. Die künst-
lerischen Absichten sind die Seele jeden Stiles,
und die hochentwickelte Technik unsrer Zeit wird
erst dann einen Stil unsrer Zeit errichten helfen,
wenn wieder bewusste künstlerische Absichten und
hohe Schönheitsideale die zur Zeit nur allzu
wi ssensdurstige Menschheit beseelen. V
 
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