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Erste Vorlesung.
stand begriffen werden können, — eine Frage, die an-
scheinend uns näher liegt als jede andere — gerade diese
hat nur selten, selbst nicht bei den grössten Philosophen,
die Beachtung gefunden, welche sie verdient.
Strauss: Haben wir noch Religion?
Nichts kann unbefriedigender sein als die Art und
Weise, in welcher diese Frage sich vor Kurzem in den
Vordergrund gedrängt hat. Strauss, gewiss sonst ein
scharfer Denker, stellt in seinem letzten Werke, „Der alte
und der neue Glaube", die Frage auf: Haben wir noch
Religion? Auf eine so gestellte Frage gibt es keine Ant-
wort, es sei denn, dass wir an den Statistiker appelliren,
der uns gar bald mit Zahlen beweisen würde, dass es in
der Welt auf 100,000 Menschen kaum einen gibt, der be-
hauptet keine Religion zu haben. Wollte Strauss eine
andere Antwort, nämlich ob er oder wir noch Religion
haben, so musste er die Frage anders stellen. Er musste
vor Allem die Religion in ihrer psychologischen und
historischen Entwickelung zu begreifen und zu defmiren
suchen. AVas aber thut Strauss ? Er nimmt die alte Defi-
nition, welche Schleiermacher vom Wesen der Religion
gegeben, sie bestehe darin, dass wir uns unserer selbst
als schlechthin abhängig bewusst seien, und supplementirt
sie durch die Definition Feuerbach's, dass das Wesen der
Religion der Wunsch sei, welcher Wunsch sich durch
Beten, Opfern, Glauben äussere. Da nun dieses religiöse
Element, das Gebet, Kreuzschlagen, Messehören u. s. w.
viel häufiger und ununterbrochener im Mittelalter zur An-
sprache gekommen sei als jetzt, so folge, dass es jetzt
nur noch wenig intensive Frömmigkeit oder Religion gäbe.
Erste Vorlesung.
stand begriffen werden können, — eine Frage, die an-
scheinend uns näher liegt als jede andere — gerade diese
hat nur selten, selbst nicht bei den grössten Philosophen,
die Beachtung gefunden, welche sie verdient.
Strauss: Haben wir noch Religion?
Nichts kann unbefriedigender sein als die Art und
Weise, in welcher diese Frage sich vor Kurzem in den
Vordergrund gedrängt hat. Strauss, gewiss sonst ein
scharfer Denker, stellt in seinem letzten Werke, „Der alte
und der neue Glaube", die Frage auf: Haben wir noch
Religion? Auf eine so gestellte Frage gibt es keine Ant-
wort, es sei denn, dass wir an den Statistiker appelliren,
der uns gar bald mit Zahlen beweisen würde, dass es in
der Welt auf 100,000 Menschen kaum einen gibt, der be-
hauptet keine Religion zu haben. Wollte Strauss eine
andere Antwort, nämlich ob er oder wir noch Religion
haben, so musste er die Frage anders stellen. Er musste
vor Allem die Religion in ihrer psychologischen und
historischen Entwickelung zu begreifen und zu defmiren
suchen. AVas aber thut Strauss ? Er nimmt die alte Defi-
nition, welche Schleiermacher vom Wesen der Religion
gegeben, sie bestehe darin, dass wir uns unserer selbst
als schlechthin abhängig bewusst seien, und supplementirt
sie durch die Definition Feuerbach's, dass das Wesen der
Religion der Wunsch sei, welcher Wunsch sich durch
Beten, Opfern, Glauben äussere. Da nun dieses religiöse
Element, das Gebet, Kreuzschlagen, Messehören u. s. w.
viel häufiger und ununterbrochener im Mittelalter zur An-
sprache gekommen sei als jetzt, so folge, dass es jetzt
nur noch wenig intensive Frömmigkeit oder Religion gäbe.