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294

Sechste Vorlesung.

Indem sie diesem Beispiel der vergleichenden Philo-
logie folgte, ist auch die vergleichende Religionswissen-
schaft zu sehr ähnlichen Resultaten gelangt. Anstatt an die
hauptsächlichsten Religionen der Menschheit mit dem vorge-
fassten Urtheil heranzutreten, dass sie entweder Verderb-
nisse der jüdischen Religion seien oder dass sie mit der
jüdischen Religion zusammen aus einer vollkommenen ur-
zeitlichen Offenbarung abstammen, hat man eingesehen^
dass es unsere Pflicht ist, vor allen Dingen Alles zu
sammeln, was Licht auf die älteste Geschichte der Reli-
gion werfen kann, sei es nun in den heiligen Büchern der
Menschheit oder in den Mythologien, Traditionen, Sitten,
Gebräuchen und Sprachen der verschiedenen Völker der
Erde. Erst nachdem dies geschehen, hat man eine genea-
logische Classification des gesammelten Materials angestrebt,
um schliesslich an die Frage nach dem Ursprung der Reli-
gion mit ganz neuen Absichten heranzutreten. Die Frage
ist jetzt, was sind die Wurzeln der verschiedenen Reli-
gionen, wie entwickelten sich die ersten wurzelhaften Be-
griffe der Religion und vor Allem der Begriff des Unend-
lichen, wobei Nichts vorausgesetzt werden darf als sinn-
liche Wahrnehmung auf der einen Seite, und die Welt,
so weit sie uns erscheint, auf der anderen.

So wie alle Sprachen in einer stätigen Entwickelung
begriffen sind, wobei nicht nur Neues wächst, sondern,
wie dies bei allem Wachsthum unvermeidlich ist, auch
Altes und Verbrauchtes ausgeschieden wird, so hat sich
auch die Geschichte der Religion als eine stätige Ent-
wickelung herausgestellt, ja man hat begreifen lernen, dass
ihr eigentliches Leben darin besteht, verbrauchte Bestand-
teile wegzuschaffen, um die übrigen, die noch kräftig und
gesund sind, desto besser bewahren und immer neue Kraft
 
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