Burgund und die Eidgenossenschaft -
zwei politische Aufsteiger
VON CLAUDIUS SIEBER-LEHMANN
1476 verbrachte Karl der Kühne einen großen Teil seines letzten Lebensjahres in der West-
schweiz, und die Orte Grandson und Murten waren für ihn sicher zu unheilvollen Namen
geworden. Warum war es ihm nicht möglich gewesen, sich mit seinen Gegnern friedlich
zu einigen? Nahm er damals Kontakt mit der gegnerischen Partei auf?
Wenn wir die Edition der Briefe Karls des Kühnen auf diese Frage hin durchsehen,
stellen wir zu unserer Überraschung fest, daß der burgundische Herzog während des
ganzen Jahres keinen einzigen Brief an seine Feinde sandte. Dieses Fehlen jeglicher Kom-
munikation belegt eindrücklich die Unvereinbarkeit der Opponenten, und die
Geschichtsschreibung wies seit jeher auf den unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem
hochadligen Karl und seinem drittständischen Widerpart hin.
Der Titel des vorliegenden Beitrags suggeriert eine gegenteilige Ansicht und will einen
Perspektivenwechsel vorschlagen1. Den Kontrahenten der sogenannten Burgunderkriege
wird eine Gemeinsamkeit unterstellt, nämlich die Situation des Aufsteigers oder Empor-
kömmlings2. Die Idee, die beiden Feinde unter diesem gemeinsamen Nenner zusammen-
zufassen, geht auf eine Leseerinnerung zurück, genauer: auf eine überraschende Stelle im
»Herbst des Mittelalters« von Johan Huizinga. Trotz seiner Faszination für die burgundi-
sche Hofkultur bezeichnet Huizinga die damaligen Feste als »ungewöhnliche abge-
schmackte Schaustellungen«3, in denen die »Aufdringlichkeit handfester Darstellung«
1 Die hier vorgetragene These stieß während der Breisacher Tagung auf Widerspruch. Die damals
geäußerten Einwände sind im vorliegenden Text eingearbeitet, ohne daß die Vortragsform mit ihrer
ein wenig provokativen Note aufgegeben wurde. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern
der Breisacher Tagung für ihre Diskussionsbeiträge sowie insbesondere Werner Paravicini, der noch
nicht publizierte Manuskripte zur Verfügung stellte und die hier vorgetragenen Ansichten kritisch
begutachtete. Christian Windler, Bernhard Sterchi und Simona Slanicka sahen den vorliegenden
Artikel ebenfalls durch und halfen mit Hinweisen weiter. Zum Fehlen von brieflicher Kommunika-
tion zwischen dem Burgunderherzog und den eidgenössischen Orten vgl. W. Paravicini (Hg.), Der
Briefwechsel Karls des Kühnen. Inventar (Kieler Werkstücke, D 4), Frankfurt a. M. u. a. 1995. Der
gleiche Befund zeigt sich auch im Falle von H. Stein, Catalogues des actes de Charles le Temeraire
1467-1477 (Instrumenta Bd. 3), Sigmaringen 1999.
2 Die Bezeichnungen »Emporkömmling« und »Aufsteiger« werden im Folgenden gleichwertig
behandelt.
3 J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, hg. von K. Köster, Stuttgart 1975, S. 368.
zwei politische Aufsteiger
VON CLAUDIUS SIEBER-LEHMANN
1476 verbrachte Karl der Kühne einen großen Teil seines letzten Lebensjahres in der West-
schweiz, und die Orte Grandson und Murten waren für ihn sicher zu unheilvollen Namen
geworden. Warum war es ihm nicht möglich gewesen, sich mit seinen Gegnern friedlich
zu einigen? Nahm er damals Kontakt mit der gegnerischen Partei auf?
Wenn wir die Edition der Briefe Karls des Kühnen auf diese Frage hin durchsehen,
stellen wir zu unserer Überraschung fest, daß der burgundische Herzog während des
ganzen Jahres keinen einzigen Brief an seine Feinde sandte. Dieses Fehlen jeglicher Kom-
munikation belegt eindrücklich die Unvereinbarkeit der Opponenten, und die
Geschichtsschreibung wies seit jeher auf den unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem
hochadligen Karl und seinem drittständischen Widerpart hin.
Der Titel des vorliegenden Beitrags suggeriert eine gegenteilige Ansicht und will einen
Perspektivenwechsel vorschlagen1. Den Kontrahenten der sogenannten Burgunderkriege
wird eine Gemeinsamkeit unterstellt, nämlich die Situation des Aufsteigers oder Empor-
kömmlings2. Die Idee, die beiden Feinde unter diesem gemeinsamen Nenner zusammen-
zufassen, geht auf eine Leseerinnerung zurück, genauer: auf eine überraschende Stelle im
»Herbst des Mittelalters« von Johan Huizinga. Trotz seiner Faszination für die burgundi-
sche Hofkultur bezeichnet Huizinga die damaligen Feste als »ungewöhnliche abge-
schmackte Schaustellungen«3, in denen die »Aufdringlichkeit handfester Darstellung«
1 Die hier vorgetragene These stieß während der Breisacher Tagung auf Widerspruch. Die damals
geäußerten Einwände sind im vorliegenden Text eingearbeitet, ohne daß die Vortragsform mit ihrer
ein wenig provokativen Note aufgegeben wurde. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern
der Breisacher Tagung für ihre Diskussionsbeiträge sowie insbesondere Werner Paravicini, der noch
nicht publizierte Manuskripte zur Verfügung stellte und die hier vorgetragenen Ansichten kritisch
begutachtete. Christian Windler, Bernhard Sterchi und Simona Slanicka sahen den vorliegenden
Artikel ebenfalls durch und halfen mit Hinweisen weiter. Zum Fehlen von brieflicher Kommunika-
tion zwischen dem Burgunderherzog und den eidgenössischen Orten vgl. W. Paravicini (Hg.), Der
Briefwechsel Karls des Kühnen. Inventar (Kieler Werkstücke, D 4), Frankfurt a. M. u. a. 1995. Der
gleiche Befund zeigt sich auch im Falle von H. Stein, Catalogues des actes de Charles le Temeraire
1467-1477 (Instrumenta Bd. 3), Sigmaringen 1999.
2 Die Bezeichnungen »Emporkömmling« und »Aufsteiger« werden im Folgenden gleichwertig
behandelt.
3 J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, hg. von K. Köster, Stuttgart 1975, S. 368.