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DIE ZEIT DER TRENNUNG: HERBST I5O5 BIS FRÜHJAHR 1507

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fiebrig aufleuchten. Zugleich wird der Ausschnitt kleiner gewählt und der Kopf dadurch ganz beherr-
schend gemacht. Um den Mund finden sich psychologisch sehr feine und keineswegs ins Sympathische
differenzierte Züge.

Der Dargestellte muß - ob in Ernst oder Scherz - Dürers Ärger durch seinen Geiz geweckt haben.
Er hat ihm auf die Rückseite eine >Avaritia< gemalt. Was immer der Anlaß war: daß den Meister in
diesem Augenblick das Hexenthema gefesselt hat, ist außer Zweifel. Die >Avaritia< stellt sich den Schrift-
gelehrten zur Seite. Auch hier starren zwei letzte Zähne aus dem Mund, wie bei dem Greisenprofil des
Luganer Gemäldes. Über dem greulichen Körper mit Hängebrust und deformiertem Arm blickt der
Kopf mit schmalspaltigen Augen. Das Licht spielt hell nur auf dem Antlitz, halbhell auf der Brust; der
Arm bleibt, gegen die Ratio, halb im Dunkel. Das neue Interesse am Abseitigen, Unheimlichen findet
auch hier sein Feld.

Wie sich der neue Stil bei Ganzfigurigem auswirkt, zeigen vier Proportionsstudien (Wien und
London), die eng zusammengehören, und von denen zwei noch 1506 datiert sind. Sie bilden den Anfang
der Vorbereitungen für die Madrider Gemälde mit >Adam und Eva< von 1507, die erst nach der Rückkehr
in Nürnberg gemalt wurden127. Dürer konstruiert jeweils auf der einen Blattseite die Proportionen und
zeichnet auf der anderen die Figur vor schwarzem Grund durch. Den Adam (in Wien) übernimmt er von
seinem Stich aus dem Jahr 1504. Die Eva aber variiert er dreimal. Bei der ersten Studie in London ähnelt
auch sie noch dem Stich. Aber die Proportionen sind schon etwas gestreckt, das Ganze stärker vertikali-
siert. Dies nimmt bei der zweiten Londoner Fassung zu: der linke Arm hält den gepflückten Apfel steil
über den Kopf empor. Die dritte Fassung in Wien geht noch weiter. Jetzt wird die spröde Bewegung
fließend gemacht, der Schritt holt weiter nach links aus und der erhobene Arm nach rechts. Flackernd
geht es, durch die wehenden Haare verstärkt, nach oben. Die Rückseite mit der Durchzeichnung steigert
noch einmal mehr das Überschlanke. Dürer nimmt mit der Schwarzgrundierung noch ein Teil an Fleisch
und Muskeln weg, am Torso, wie an Schenkeln und Armen. Er verkleinert auch das Antlitz. Jetzt wirken
die Proportionen wirklich hexenhaft dünn. Fast gespenstisch züngelt die Figur vor der schwarzen Fläche128.

Dürers erste Hauptarbeit nach der Rückkehr war die >Marter der zehntausend Christen<
(Abb. 139) für Friedrich den Weisen (Wien). Im August 1507, in einem Brief an Jakob Heller,nennt er sie
schon mehr als halb fertig, obwohl er in der Zeit vorher mehrere Wochen durch Krankheit an der Arbeit
verhindert war. Aufs feinste, fast miniaturenhaft ausgeführt, kam es erst 1508 zur Vollendung. Dem Beginn
des Gemäldes aber muß die noch mit Breitformat rechnende erste Entwurfzeichnung (Abb. 146) in
der Albertina vorangegangen sein. Sie kann also nur in den Anfang der Nürnberger Zeit, knapp nach der
Rückkehr um den 1. März, gehören129.

Dieser Wiener Entwurf ist ein Hauptzeugnis von Dürers dämonischer Phase. Es geht thematisch um
tausendfache Passion, um Morden in unendlicher Variation, um das Triumphieren der Grausamkeit und
des Todes. Die Feder, unerhört schnell und leicht, setzt schon die größeren Figuren des Vordergrundes
mit gespenstischem Vibrieren hin und kommt im Hintergrund, wo die Gestalten fast insektenhaft Schwir-
rendes annehmen, zu unüberbietbarer Dynamik: in winzigem Format, in meisterhafter Verschmelzung
mit den Landschaftsmotiven.

Verblüffend, wie verwandt diese Gesinnung Baidungs letzten Holzschnitten im >Speculum< wird.
Auch Dürer greift hier im Motivischen, wie in der Weiträumigkeit auf seine letzte dynamische Phase um
die Wende 1504/05, auf den Stil des >Großen Kalvarienberges< zurück. Die Freude an Vielfigurigkeit, tief
 
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