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FOLGERUNGEN ZUM PROBLEM DER STILENTWICKLUNG

K. Oettinger

Entwicklung, wörtlich verstanden, ist zunächst ein persönlicher Begriff: Entfaltung des Einzel-
individuums bis zur vollen Reife körperlicher und geistiger Mannbarkeit. In unseren Breiten wird sie
etwa mit dem zweiundzwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Jahr je nach Einzelanlage erreicht. Dieses
Alter trifft nicht zufällig mit den Vorschriften über Bürger- und Meisterfähigkeit zusammen. Auch im
Künstlerischen entspricht diese Schwelle dem Zeitpunkt, zu dem die volle Beherrschung der Mittel,
die Ausprägung eines eigenen Stils und das mannhafte Selbstverständnis erreicht wird, das den Meister
ausmacht. Nun bringt er - nach oft weit vorangehenden Geniestreichen - Meisterwerke hervor.

Für Dürer, den dem Wesen nach Jungen und Spätreifen, hegt die Schwelle um vierundzwanzig bis
fünfundzwanzig, bei den ersten großen Kupferstichen und dem Beginn der großen Holzschnittserien:
gegen 1495/96. Baidung dagegen, der Altkluge, Frühreife, erreicht die innere Meisterschaft mit dem
zweiundzwanzigsten bis dreiundzwanzigsten Jahr, mit der klassischen Phase von 1505/06. Von da an ist
er seiner sicher, hat ausgelernt, will, was er kann.

Den nächsten Einschnitt sieht die Lebensalterforschung, ein noch junger Zweig der Psychologie,
mit dem Ende der zwanziger Jahre, dem Beginn des Phihsteralters. Von da ab beginnt die Mehrzahl
zu stagnieren, und von Entwicklung, auch im geistigen Sinn, ist biologisch nicht mehr korrekt zu spre-
chen. Doch ist es gerade für Geniale bezeichnend, daß Jugendkräfte, und d. h. Entwicklungsmöglich-
keiten, längerhin wirksam bleiben. In diesem Sinn darf man auch von dem Dürer zwischen 1503 und
1508, dem Zweiunddreißig- bis Achtunddreißigjährigen, gewiß noch von Entwicklung sprechen, auch
wenn es strenggenommen zumindest teilweise schon Alterungsvorgänge sind, die mit hereinspielen.
Daß es nur mehr in übertragenem Sinn berechtigt ist, auch die Wandlungen älterer und alter Künstler
als Entwicklungsvorgänge zu bezeichnen, sei am Rande notiert.

Aufjeden Fall aber läßt sich jenes Gemeinsame, das Baidungs und Dürers Wege zwischen 1503 und
1508 verbindet, nur im metaphorischen Sinn als Entwicklung betrachten. Anders wäre es, wenn man
annehmen dürfte, Dürers persönliche Entfaltung wäre von seinem Gesellen dauernd unter unmittelbarem
persönlichem Einfluß übernommen worden, und so auch bei Baidung nur als individuelle Erscheinung
deutbar. Das aber wird ausgeschlossen durch die Tatsache, daß ihre Wege auch in den Trennungszeiten
gemeinsame Schritte erkennen ließen: mit völliger Eindeutigkeit vor allem in den anderthalb Jahren von
Dürers zweiter Italienzeit, von Sommer 1505 bis Frühjahr 1507. Es spielt also ein anderer, anscheinend
überindividueller Vorgang mit.

Das Gemeinsame betrifft nicht etwa nur formale und motivische Züge, und nicht nur solche, die
bewußt übernehmbar und wählbar sind. Es reicht in tiefere Schichten hinab, in das Lebensgefühl, in die
Zone der ’Gestimmtheit1, jenseits der jeweils gewählten Stimmung für einzelne Schöpfungen. Es betrifft
Ernst und Heiterkeit, Diesseitsinteresse und Jenseitsvisionen, Harmonie und Spannung, Zuständlichkeit
und Dynamik, Kühle und Glut und den Humor im ursprünglichen Sinn des Wortes.

An diesem gemeinsamen Ablauf ist nichts von Entwicklung im Sinn von Entfaltung auf ein bestimmtes
Ziel hin zu erkennen. Es gibt keinen Endpunkt, mit dem er zur Ruhe käme. Es handelt sich um Wandlung,
 
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