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Pazaurek, Gustav Edmund
Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe — Stuttgart, Berlin, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.28948#0225
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„Handschuh" auch sicherlich nicht dazu geschrieben, damit ihn irgendeine
Küchenfee mechanisch herieiere, um am Schlüsse zu erfahren, wann — die
kochenden Eier gerade pflaumenweich sind. Unzählige Beispiele ließen sich
noch für geänderte Zweckbestimmungen aus dem Alltagsleben heranziehen; wir
brauchen nur an unsere Schuljungen zu denken, die im Winter ihre Schulranzen
als Schlitten benutzen, oder
an manche Auswüchse der
Frauentracht, vom „Cul de
Paris" angefangen bis zu
den Schinkenärmeln und
Riesenhüten, die eigentlich
nicht für den Grenzschmug-
gel erfunden wurden und
doch dazu herangezogen
worden sind. — Auch in
Kunst und Kunstgewerbe
sind zahllose Fälle geän-
derter Zweckbestimmung
bekannt. Schon im alten
Ägypten wurde z. B. beim
Proteustempel von Mem-
phis das Baumaterial der
fünften Dynastie von der
elften Dynastie neu ver-
wendet, wie man sehr viele
antike Säulen in frühmittel-
alterliche Bauten — z. B.
in der Pfalzkapelle in
Aachen — neu einfügte,
oft selbst dann, wenn sie
der neuen Zweckbestim-
mung nicht immer genau
entsprachen. Eines der kost-
baren altorientalischen Hed-
wigsgläser stand lange bei
einem Hildesheimer Buch-
binder als Kleistertopf. In
einem übermütigen Kreise
wurde dereinst eine Bowle
in einem Porzellangefäß gebraut, das seiner ersten Besitzerin, der Marquise
Pompadour, zu anderen Zwecken gedient hatte und dementsprechend anders
konstruiert war. Derartige „Scherze" kommen wohl heutzutage nicht mehr
häufig vor; aber jetzt tragen unsere Damen ihre goldenen Taschenuhren wie
Verdienstmedaillen mit einer Schleife an die Brust geheftet. Wenn die modernen
Kleider keine Taschen gestatten, kann man allerdings die „Taschenuhren" auch
nicht in solche versenken. Aber muß man sie gerade so tragen, daß die Be-
sitzerin die Zeit abzulesen gar nicht imstande ist? In der deutschen Spätrenais-
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Abb. 153. Empiretür, als Kasten gebildet
Stuttgart, Residenzschtoß
 
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