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Pfeilstücker, Suse
Das Wesen der Plastik — Führer zur Kunst, Band 20: Esslingen a.N.: Paul Neff Verlag (Max Schreiber), 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.67363#0050
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Dieses drollige Geschichtchen gibt uns zu denken. Ein
Kunstwerk soll die in Gesellschaft üblichen Höflichkeitsgesetze
befolgen? Und doch wird sich keiner beleidigt fühlen, der
Schwinds „Morgensonne“ betrachtet; auf diesem reizenden Bild
hat ein Mägdlein gerade den schattigen Fensterladen zurück-
gestoßen und beugt sich mit anmutiger Bewegung zum offenen
Fenster hinaus, wobei sie natürlich dem Beschauer den Rücken
zukehrt. Einem gemalten Menschen ist demnach etwas er-
laubt, was dem modellierten verboten ist. Es gilt diese
Frage zu untersuchen. Die Nike des Paionios (Abb. 13) ist
ohne Zweifel am wirksamsten von vorn gesehen, wo sie mit
kühnem Schwung auf uns zuzufliegen scheint. Von der Seite
wäre sie wohl noch herrlich in den Formen zu nennen, aber
die seelische Beeinflussung ginge verloren. Veit Stoß’ Kruzifix
hat bloß eine Seite, die Vorderseite. Der tanzende Satyr ist
köstlich von allen Seiten. Ein Reiterstandbild, eine Tierplastik
hat zwei Schauseiten, die beiden Längsflächen. — Es gibt dem-
nach Plastiken, die eine Hauptansicht aufweisen, während an-
dere von zwei, wieder andere von allen Seiten mit dem gleichen
Genuß anzusehen sind. Um diese Frage der „Ansicht“ ist
gerade in letzter Zeit ein heißer Streit geführt worden. Der
im Januar 1921 verstorbene Münchener Bildhauer Hildebrand
hat in seinem geistvollen Buch „das Problem der Form“ den
Satz aufgestellt, daß das Dreidimensionale, das Kubische für das
Auge „quälend“ sei. Darin hat er recht. Leicht können wir die
Gegenstände erfassen, die nebeneinander liegen, also bloß
zwei Dimensionen aufweisen. So prägt sich das Muster auf
einer Decke schnell ein. Auch die Figuren auf einem Bild
Häuser; Menschen, Tiere, Bäume — sind leicht abzulesen.
Wohl sind sie in Wirklichkeit, in der Natur, dreidimensional,
aber des Zeichners nachdenkliche Kunst hat sie hauptsächlich
durch das Mittel der Perspektive in nur zwei Dimensionen vor-
geführt. Ganz anders liegen die Dinge bei einem plastischen,
kubischen, dreidimensionalen Kunstwerk, bei einer Statue. Höhe
und Breite sind dem Auge klar, aber die Abmessung in die
Tiefe ist immer schwierig. Man erinnere sich nur daran,
daß Anfänger beim perspektivischen Zeichnen die Tiefenaus-
 
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