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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 19.1910

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Heft 3
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Hamann, Richard: Nachantike Plastik und ihre Entwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26462#0107

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Abb. Z. Prophetenbüste. Syrlin d. I.? geb. 1455,
gest. um I52l. Schwaben. Lindenholz. Um >500.

baren Gewandftil großer ruhiger Formen und durch-
gefühlten harmonischcn Gleichgewichtes gclangen, wird
lcider nur an italienischen Skulpttireit deutlich, von dencn
die aus der Schule des Giovanni Pisano die Würde
großer Faltenzüge verbinden mit dem Ausdruck einer
spätromanischen Beklemmung und dem Pathos spät-
römischer Barockkunft, während eine Ferrarcsische Ver-
kündigungsgruppe den freieren, klassischen Faltenwurs
und die ruhigere, abgewogenere Haltung der Art des
Andrea Pisano offenbart. Die sehr viel großzügigerc
»ordische Plastik i» der Art der NaumburgerundRheimser
Skulpturen ift wohl zu sehr mit den Architekturen ver-
bunden, als daß Spezimina dieses hohen Stiles mittel-
alterlicher Kunft leicht in eine Sammlung gelangen
könntcn.

Dasür aber birgt das Museum eine reiche Fülle
trefflichster Skulpturcn der Spätgotik, dieses für die
deutsche Kunst des späten Mittelalters und der Renais-
sance so bedeutungsvollen Zweiges des Kunstschaffens,
daß man sühlt, hicr liegt der Kcrnpunkt dcr Samm-
lung und das Hauptziel ihrer Bemühungen. Ein
Johannes und eine Maria zu Aeiten eines schmerzhaft
zusammengezogenen Chriftus am Kreuz — nordfranzö-
sische Holzskulpturen — sind in ihrer schlanken, gepreßten
Haltung, dcn leise gebogencn, ftabartigen Faltcn An-
zeichen sür dcn zum Hyperscincn und inaniericrt Schlan-
ken entartenden, edlen Stil der Gotik. Nach einer
andcren Seite hin entartct die ruhige hochgotische Plastik
in einer Reihe von Skulpturen, die sich hestig aus-
biegen, daß die Hüste ftark aus dcm Körper zur Seite
heraustritt. Breit wird das Gesicht, die Falten schwul-
stig und derb, und iveit ab mit ftarkcm Arm hält dic
Madonna das Kind, das täppisch mit der Hand aus
die Bruft der Mutter schlägt oder, wie es das Frank-

Abb. 4. Heiliger Georg, von Jörg Syrlin d. Ä.;
gest. I4?l? Cichenholz. l?5 ein hoch. Detail.

furter, aus der Champagne ftammende Beispiel zeigt,
einen Mantelzipfel in der Hand preßt (Abb. 6). Diese
Madonna ift ein wichtiges, die Herkunft eines be-
stimmte'n Typus vielleicht klärendes Seitenftück zu
schönen Madonnen im Magdeburger Dom und im
Märkischen Museum in Berlin.

Die Grazie eines weich und rund, aber sehr rein
geformten KopfeS mit wellig nach hinten geftrichcncn
Haaren, und eines dem Körper sich anschmiegenden, in
sein gezeichnctcn Säumen leise fließenden Gewandes
(Abb. 8) sührt uns in die flächenhaft und umrißmäßige
Kunst eines besonders in der Malerei sich ausbreitenden
Stiles am Anfang deS 15. Jahrhunderts hinein und
läßt diese Halbfigur des Matthäusengels alö ober-
italienische Arbeit dieser Zeit erkennen, nicht wie der
Katalog will, versührt wohl durch die Reinheit des
Stiles, alS französische Arbeit vom Ende des 15. Jahr-
hunderts. Das Sentimentale, Mildr wie bei Fra
Anglico, Gentile da Fabriano und oberitalienischen Ma-
lern muß man durchfühlen.

Mit einem Schlage aber werden wir aus diesen
gotischen Schönheitskurven und idealen Typen heraus-
gehoben durch drei besonders seltene Plastiken auö dem
Kreise des Claus Sluter. Ein heiliger Antonius „mit
den Füßcn im Feuer" ift remfte Genrefigur, ganz nach
Seite des Charakteriftischen hin gearbeitet, die Formen
ganz wie malerische Massen gegeben und Blick und
Physiognomie lebendig wie auf Gemälden der hollän-
dischen Schule. Als Gegenstück dazu — eine Madonna
(Abb. I), untersetzt und völlig, in weitem Mantel aus
dickem Stoff, in dem überall die breiten Flächen wie
bei malerischer Behandlung Jan van Eycks zur Geltung
kommen. Das Gesicht ist sehr charakteriftisch und
lebensvoll, ein niedlich bürgerlicher Typus, die ganze

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