Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 19.1910

DOI Heft:
Heft 4
DOI Artikel:
Rüttenauer, Benno: Paul Heyse
DOI Artikel:
146-148 [Besprechungen]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26462#0160

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Paul Heyse.

mit der Berechtl'gung oder Nlchtberechtigung ihrer Kritik
nichts zu tun.

Nur die hohe geistige Kultur des Menschen und
Schriftstellers — abgesehen von der dichterischen Bewäl-
tigung dcs Lcbenö — hätten sie spüren inüssen. Und
für den Wohllaut und rhythmischen Fluß seincr Prosa
hätten sie nicht so dickohrig sein dürsen. Gewiß stcht
diese Prosa weit ab von der Sprache cines Keller, ist
nicht die Sprache eines, der die Welt im Busen trägt;
freilich ist sie oft schwächlich im Ausdruck, hat allzu
weiche weibliche Formen, ist auch ein wenig farbloö in
ihren Bildern, und ihr rhythmischer Wellenschlag kann
etwas zu unkräftig und gleichförmig genannt werden.
Überhaupt nicht als Jnstrument künstlerischen Gestaltens
ist sie hoch zu stellen, dafür aber gebührt ihr daö Ver-
dienst, daß sie für die nachgoethstche Zeit das reinste
und höchstc der bloßen Bildung zugängliche und zu-
trägliche Muster darstellt.

Und damit ist das Wort ausgesprochen. Heyse ist
in erster Linie der hervorragendste Repräsentant der-
jenigen höheren und höchsten Bildung, die bis ins
zweitletzte Jahrzehnt des abgelaufenen Zahrhunderts in

Deutschland ausschließlich Geltung hatte. Er ist vor
allem ihr aristokratischer Repräsentant. Hierin erfüllte
er eine Mission, die wir nicht unterschätzen wollen.
Auch er war nicht frei vom Bildungsphilister, aber er
hatte doch weniger davon alö die anderen Repräscn-
tanten. Jn seinem Werk spricht sich nicht sowohl die
Summc als der aristokratische Gipfel dieser Bildung
aus, die im großen und ganzen zur Kunst fast nur
noch ein dilettantisches Verhältnis hatte und dercn noch
lebende Vertreter sich durch nichts so schr selber kenn-
zeichnen als durch ihr gänzliches Nichtverstehen — ich
sage nicht Ablehnen, das ist waö andereS — durch ihr
gänzlicheS Nichtverstehen, sage ich, der höchsten schöpfe-
rischcn, wenn auch vielleicht barbarisch-schöpfcrischen Kraft
der Zeit einerseits, selbst nur dcr Kraft und Potenz alS
solcher, wie gleichzeitig des einzigen ebenbürtigen Wider-
sachers dieser Kraft, durch ihr gänzliches und ahnungs-
loseö Nichtverstehen und Abtun Wagners sowohl wie
Nietzscheö. So ist immer die Bildung, diese Art Bil-
dung: WelteroberungSmächte glaubt sie wie der Schul-
meister durch eine schlechte Betragensnote oder einen
„Fünfer" im „Stil" an dcn Pranger ftellen zu können.

Benno Rüttenauer.

d^ilhelm MeisterS theatralische Sendung.

Durch einen Zufall ist der deulschen Literaturgeschichte cin
erhebliches Glück passtert. Prosessor Gustav Billeter am Aürcher
Gymnasium bekam durch einen Schüler ein altes Manuskript
von «18 losen Oktavblättchen zur Prüfung, ob es ein Autogramm
Gocthes odcr sonst irgendwie von Bedeutung sei? Der Schüler
war ein Nachkomme der Frau Barbara Schultheß und cs stellte
stch heraus, daß eine Abschrift der ersten Faffung von Wilhelm
Meisters Lehrjahren in dcr Fainilie geblieben war; seinerzeit in
herzlicher Bewundcrung gemacht und danach vergeffen. Das ist
natürlich auch außerhalb der Literaturgeschichte ein Creignis und
man versteht die Bewegung der Goethegemeinde, zu der mittler-
weile mchr oder weniger alle gebildeten Deutschen gehören. Jetzt
hat der glückliche Finder im Verlag von Rascher s- Co. zu Zürich
„Mitteilungen über die wiedergefundene erste Faffung von Wilhelm
Meisters Lehrjahrcn" erscheinen lassen, darin die bemerkenswertesten
Stücke abgedruckt sind; die Gesamtailsgabe, durch Profeffor Dr.
H. Maync besorgt, wird im Herbst bei C. Diederichs crschcinen.

Cs zeigt sich nun, daß Goethe dcn Anfang vom Wilhelm
Meister zuerst streng chronologisch erzählt hatte, und erst später
nach mehr als anderthalb Jahrzehnten jenen Sprung mitten in die
Marianne-Cpisode hinein tat, mit der das Buch in der end-
gültigen Fassung sonderbar genug beginnt. Ursprünglich fängt
es behaglich im Chronistenstil an: „Cs war einige Tage vor dem
Christabend 174 — , als Benedikt Meister" usw. Nicht nur die
Rechtschreibung, sondern auch die Sprache bcrllhren so altmodisch,
daß man mit schwerem Mißtrauen zu kämpfen hat, bevor man
diese Sätze dcin jungen Goethe zuschreiben mag. Hat man sich,
mit Hilfe der endgültigen Fassung, aus den mitgeteilten Bruch-
stücken ein ungefähres Bild dcr ersten Niederschrift gemacht, so
bleibt als Wirkung eine Enttäuschung zurück. Man sieht zu
schr in das Handwerk hinein; als sich Gocthe im Jahr I7?4 „im
cigcntlichsten Sinn jetzt nur als den Herausgeber" der scit 1777
bewahrten Niedcrschristen bezeichnete, muß ihm die erste Faffung
vielfach mißfallen haben — wie sie uns heute durchaus nicht in allem
gefällt; er hat ihre epische Breite lebendig zu machen versucht,
indein er als Crzähler viel später cinsctztc, und den Helden aus
der Vorgcschichte erzählen ließ, was ihm wichtig — und in der
ersten Niederschrift gut gcraten „schien. Jndcm er aber solche
Stücke teilweise nur in leichter Änderung aus der alten in die
neue Crzählweise übernahm, ist die endgültige Faffung ein Mosaik
geworden, dcffen Flicken und Nähte wir durch den Zllrcher Fund
genau erkennen; nicht zu unsrer Freude, es will uns nun manches
nicht mehr passen, was frllher geläufig schien.

Daß es für die Goetheforschung bis zur Aufregung wertvoll
ist, solche Vergleichsstücke zu haben, ist.wohl begreiflich — obwohl
nicht recht zu verstehen ist, wem damit nun cigentlich gedient sein
soll, den Schaffenden oder dcn Genießenden? — sonst aber solltc
man doch wohl mit dem Enthusiasmus vorsichtig sein: „Wie
konntc Goetbe dieses wunderliebliche Gebilde zerstören?" („eine der
köstlichsten Schöpsungen der Weltliteratur"). Was Goethe 1784
an Frau von Stein schreibt und woraa Billetcr selber erinnert:
„An ,Wilhelm' habe ich hicr und da eingeschaltet und am Stil
gekünstelt, daß er recht natürlich werde", ist eine Einsicht, die ihm
auch I7S4 noch nicht verloren gcgangen war, als er, durch dcn
Derkehr mit Schiller angeregt, zum zweitenmal ein Dichter wurde.
Jn solchen Bemerkungen spukt die Dorstellung des alternden
Goethe, des „Geheimrats", der die Jugenddichtungen seiner an-
geblich verkalkten Einsicht opferte. Da er aber I7?4 und -5
in seinen besten Jahren war, werden wir ihm auch schon die
künstlerischen Gründe zubilligen müffen, „dieseS wundcrliebliche
Gebilde" zu „zerstören".

Ganz verdächtig muß es anmutcn, wenn vom glücklichen
Finder an der früheren Fassung des Mignonliedes das „wunder-
voll belebcnde froh der vierten Zeile" bemerkt wird: „Die Mnrthe
still und froh der Lorbeer steht". Jst dies denn wirklich so
schwer zu fühlen, wie wundervoll geradc dieses „hoch" in dcr
Zeile wirkt: „Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht?"
Das „froh" ist klanglich wie anschaulich garnicht am Platz.

Nlso: wir freucn uns mit Herrn Professor Billcter, daß wir
nun auch den „Urmcister" haben, und verdanken ihm herzlich
seine Umsicht! aber wir wollen in dieser Freudc nicht vergeffen,
daß es nur die anscheinend recht flüchtige Abschrift einer ersten
Niederschrift ist, die nachher vom Dichter als nicht druckreif ver-
worfen wurde; und daß immerhin besser als jeder von uns
Goethe selber gcwußt hat, warum er „scin gcliebtes dramatisches
Cbenbild" uns nicht in der ersten Niederschrift übermittelte.

W. Schäfer.

^Alönigliche Hoheit.

Man könnte meinen, Thomas Mann sei durch den Cr-
folg seiner Buddenbrocks übermütig geworden und verspotte dic
bescheidenen Deutschen mit eincr Groteske von Gartcnlauben-
roman, die ihm selber natürlich zum Lachen sei. Es ist aber
leider nicht so; wer das Buch bis zu Ende liest — und dazu
nötigt die herzigsüße Liebesgeschichte — sieht mit Schrecken! es
war allcs ernst gemeint, die Königliche Hoheit Klaus Heinrich,
die in einigen Wochen Finanzwiffcnschaft lernt, die indianerblütige
Imma Spoelmann, die den schrecklichen Tod des Prinzenerziehers

I4ö
 
Annotationen