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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 19.1910

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Heft 3
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Hesse, Hermann: Vor meinem Fenster
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Grautoff, Otto: Paris als Ideal der Deutschen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26462#0120

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weiter. Den leeren Kirchplatz heranf trat nun stolz
und ausgeblasen ein schöner, vielfarbiger Hahn, der aber
beim Anblick meiner Katzc plötzlich alle Würde sahren
ließ und entsetzt die Flucht ergriff. Mehrere Stunden
saß ich nun wirklich still beschäftigt am Tisch. Um
süns Uhr lief der von Horn kommende Landbote, dcr
Geld und Wertstücke austrägt, vorbei.

„Nix sür mich?", rief ich hinunter.

„Nein. Was möchten Sie denn habcn?

„Alleweil Geld am liebsten."

„Zch glaubs schon. 's wird wohl auch wieder ein-
mal so kommen, wenn Sie warten können."

„Gut denn, so wart ich halt."

Seine prächtige Uniform glänzte durch die Gasse
und verschwand um die Ecke. Er hatte noch drei
Dörfer vor sich. Jch aber hatte durch seinen Anblick
Lust zum Marschieren bekommen und lief noch eine
Stunde bergan in den Wald, sah Himmel und See
rosenrot und blaß werden und fand, als ich heimkam,
das Dorf schon in tiefer Dämmerung. Die Abend-
tränke hatte ich versäumt, ich sah nur noch die letzten
Kühe im Halbdunkel wegziehen.

Wir hatten zu Nacht gegessen und etwaS gelesen,
und ein paar Lieder gesungen und Nüsse geknackt, da
warS szehn Uhr und meine Frau ging schlasen. Jch
sitze "dann gerne noch eine Viertelstunde allein und
lausche der tiesen, ticfen Stille und sühle dcn Nacht-
frieden über die schlasenden Häuser und Felder gehen.
Ehe ich die Ampel auöblies, schaute ich noch einmal
zum Fenster hinaus. Da dämmerte der mächtige Platz
und stand dunkel die Kapelle gegen den mattglänzenden
See, am Himmel hing hinter Wolken der halbe Mond,
und durch die Dunkelheit und Stille klang daö Brunnen-
rauschen schön und einsach wie ein Volkölied.

Kurz vor elf Uhr, ich lag längst im Bett, hörte ich
mit Erstaunen noch Schritte auf der Gaffe. Neugierig
stand ich auf und sah hinauö. Es waren die zwei
Brüder, die von der Leiche heimkehrten. Der Jüngere
war stark angeheitert und nahm den Weg im Zickzack.
Der andere schritt ruhig und langsam nebenher und
trug in der Hand vorsichtig den Zylinderhut des Bru-
ders. Er hatte recht mit seiner Vorsicht; auch mir
hätte es um daS schöne Erbstück leid getan, wenn es
so bei Nacht auf der Landstraße hätte untergehen müssen.

aris als Jdeal der Deutschen.

Wenn wir zu Hause in der Wohnstube um
den Tisch herum sitzen, und einer spricht daS
Wort „Paris" aus, so schwirren die seltsamsten Vor-
stellungen durch unser Gehirn. Wir erinnern uns des
Louvre, wir atmen die Freie und Weite der großen
Avenuen und Plätze, wir hören das laute, brausende
Straßenleben, sühlen den Dust der Absinthstunde in der
Nase und sehen die grazilen, kleinen Pariser Dämchen
geschminkt, gepudert, kokett übers Trottoir trippeln.
Wir entsinnen uns einer lieblichen Schönen, die sich
lächelnd nach uns umschaute und dann in eincm großen,
dunklen Haus vcrschwand. Eine dämonische Welle
sremdartiger Freuden, unaussprechlichen Raffinements
rötet unser Gehirn, und wir träumen seligen Pariser

PariS als Jdeal dcr Deutschen.

Stunden verliebt nach. Neid und brennende Sehnsucht
empfinden wir.

Derart ist es allen gegangen, die Wochen oder
Monate in Frankreichs Hauptstadt weilten. Sie wurden
berauscht und in diesem Rausch bildeten sich Mythen,
die sich fortspannen von Generation zu Generation.
Damals, als wir selbst in keinem deutschen Bundes-
staat ein Großstadtleben kanntcn, als unser Stadtleben
noch gemächlich und träge dahinsickcrte, als unsere
besten Kräfte sich im stillen Träumen und versonnenen
Dichten ausgaben, damals war die Bewunderung des
dramatischen Lebenö in Paris begreiflich; denn das
deutsche Leben war ärmlich, kleinlich und zersplittert.
Heine, Hebbel und Wagner schürten ein neueö Feuer
der Begeisterung sür die Hauptstadt der Welt. Heine
hat nichts als Undank geerntet, Hebbel war zu kurze
Zeit in Paris, um Früchte seiner Liebe für Paris ernten
zu können, Richard Wagner hat bittere Enttäuschungen
in PariS erfahren. Trotzdem aber wurde der Glaube
der Deutschen an Paris nicht zerstört. Nein, im Gcgen-
teil, die mythologischen Vorstellungen, die die Deutschen
sich einmal von Paris gemacht hatten, blieben immer
dieselben; ihre Konturen blieben immer gleich ver-
schwommen und ihre Farben immer gleich glutkräftig.
Die deutsche Litcratur über PariS ist unübersehbar;
man könnte ein ganzes Gebäude damit anfüllen, denn
kcine dcutsche Ieitung größeren Stiles hat jemals auf
regclmäßige Pariser Briefe verzichtet, während kaum
ein halbes Dutzend Pariser Ieitungen sich regelmäßig
aus Deutschland berichten lassen. Und alle diese dcut-
schen Briese sind auf den gleichen Ton gestimmt; sie
seicrn die Schönheit, den Zauber dieser Stadt und locken
ein verführerischeS Jdeal vor die Seele deö Lescrs.

Erst seit kaum einem Jahrzehnt hat sich daS ein
wenig geändert. Unmerkliche, schwer definierbare Nuancen
haben "sich eingeschlichen. Noch steht an dem deutschen
Himmel eine zauberische Fata Morgana, die lockt und
lockt und die Deutschen über die westlichen Landesgrenzen
zieht. Aber das Bild verblaßt; denn über der Heimat
selbst leuchtet heller Sonnenschein, der die Kräfte
sprießen läßt, zu tätiger Arbeit rust und schon Früchte
zeitigt. Wir haben keine Ieit mehr, mythologischen
Vorstellungen nachzuträumen; wir sind selbst zu schaffens-
freudigem Wirken erwacht und glaubcn sogar schon eine
eigene Landeskultur und in der Reichshauptstadt ein
Kulturzentrum erreicht zu haben. Jndustrie und Handel,
Architektur und Kunstgewerbe, Malerei und Literatur
blühen auf in Deutschland und sind eins in dem großen
Willen, endlich, endlich dem Reiche eine schöne und
durchgeistigte Kultur zu geben; dabei versäumen wir
nicht, uns beständig mit dem Ausland zu vergleichen:
Wir messen unsere industriellen Erzeugnisse an denen
FrankreichS, wir ziehen zwischen ihrer Kunst und Literatur
Parallelen zu der unseren und suchen uns so weiter zu
sördern. Kurzum, wir sind offen gegen das Ausland,
haben uns unseren srüheren, europäischen Sinn erhalten,
der besonders auf den Feldcrn geistiger Betätigung die
Welt umsassen will. Möge man hundcrt Einschrän-
kungen gegen unsere Leistungen erheben; die deutschen
Ersolge lassen sich nicht leugncn. Unbestrcitbare Tat-
sachen erweisen ihre Existenz. Und wir sind stolz
auf sie.

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