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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 19.1910

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Heft 3
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Grautoff, Otto: Paris als Ideal der Deutschen
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Kaiser, Hans: Die kurländische Schneeflocke
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https://doi.org/10.11588/diglit.26462#0121

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PariL als Jdeal der Deutschen.

Wl'r blicken hinüber nach Frankreich. Jn diesem
Blick liegt viel Dankbarkeit und viel von dem zurück-
haltenden Stolz deö wohlgeratenen Schülers: du Land,
möchtcn wir sagen, jetzt haben wir auch ein Reich, ein
Ientrum, eine Kultur. Jn manchem, du vielbewunderteö
Frankrcich, warst du unö ein Beispiel, ein Vorbild.
Bist du nun zusrieden mit dem, was wir schusen?
Und die Scharfsichtigeren und Bescheidcneren fügen
hinzu: Hier und dort mangeltö noch, dieseö und jenes
ist noch unvollkommen.

Wir guten Jdealistcn harren auf ein Wort des Iu-
spruchs, auf eine freundschaftliche Anerkennung, aus eine
Rückzahlung unserer Liebe und Bewunderung sür Pariö-

Aber Pariö bleibt stunim. Wir fühlen unS ver-
letzt, ach nur ein wenig; aber wir denken wohl nach,
warum Pariö schweigt. Nun fällt uns aus die Secle,
daß Heine und Wagner bitter in dieser Stadt gelitten
haben. Der hartnäckige Widerstand, den die Pariser
sast atlen in ganz Europa anerkannten nicht-französischen
Größen entgegengebracht haben, wird uns gcgenwärtig.
Schopenhauer, Mommsen, Ranke, Treitschke, Jbsen und
Björnson sind von der Maucr ihreö latenten Wider-
standes abgestürzt; u»d selbst Goethe ist niemalö den
Parisern eine tiese Anregung, ein Wertfaktor gewesen-
Und so erkennt der deutsche Jdealist trauernd, daß
seine Liebe und Bewunderung einseitig gewesen ist, daß
er kaum jemalö auf eine Erwiderung rechnen darf.

Doch nicht alle wollen an diese enttäuschte Liebe
glauben und gehen ins Land, nisten sich dort ein, um
klar zu sehen. Die Vorzüge der Franzosen bedürfen
hier keiner Erwähnung; sie sind bekannt und häufig
gewürdigt. Aber der Frage soll hier die Antwort ge-
funden werden, wie weit im Lande deutsche Kultur
und Gesinnung als Anregung wertvoll erscheinen. Ein
paar Hundert Menschen höchstenö haben klare Begriffe
von deutschem Wesen und achten es auch; aber nur
ein cinziges Hundert wird seinem Einfluß zugänglich
sein; die andern bringen ihm einen latenten Widerstand
entgegen, der nicht zu besiegen ist. Die Maffe in
Frankrcich — gebildet oder ungebildet — hat von deutscher
Art und deutschcm Wesen keinerlci Vorstellung; für sie
hört die Welt auch heute an Frankreichö Grenzen auf.
Sie staunen, wenn sie eine Dame in kostbarer und
geschmackvoller Toilette alö Deutsche ansprechen hörcn.
Jn einer kleinen normannischen Stadt fragte ein Bürger
mich vor Jahreöfrist ängstlich und vorsichtig: „Schlafen
die Deutschen auch in Betten?" Der Herausgeber
einer südfranzösischen Ieitschrift druckte kürzlich eine
Übersetzung von Goethes italienischer Reise ab, da, wie
er nn'r versicherte, in den Bürgerkreisen von Nizza und
Marseille Goethes Name vollständig unbekannt war,
wie ihm auch mehrfache Zuschristen bewiesen. Er-
fahrungen dieser und ähnlicher Art machen nur die-
jenigen, die länger im Lande verweilen. Sie lernen
aus dem täglichen Leben, daß alle Franzosen ohne Aus-
nahme Paris noch heute als die Hauptstadt der Welt
ansehen. Während unsere deutschen Vorstellungen von
Paris sich langsam wandeln, halten die Franzosen selbst
sest an der hohen Jllusion, die sie sich von ihrer
Landeöhauptstadt schufen, und die sie in den Herzen
aller anderen Nationen entzündeten. Gerade insolge
ihres latenten Widerstandes, durch alle Zeiten sehen sie

auch jetzt nicht, wie sich ihr Land und Leben mit
deutschem Geist durchsetzt. Jn Industrie und Handel
sind deutsche Kräfte tätig. Die französische Musik steht
unter Wagners Einsluß. Sie sehen es nicht, weil sie
nur sich selbst sehen, daß deutsche Dichter und Schrift-
fteller eS heute nicht mehr für ihre Pflicht halten, nach
Pariö zu wallfahrten und es nicht mehr nötig haben
dort die Weihe zu empfangen wie in den Tagen
Gutzkows, Laubeö und dcr Iugcnd Hermann Bahrö.
Der Figaro irrt, wenn er heute immer noch bei jedem
deutschen Gaftspiel (wie kürzlich erst nach dem Auf-
treten der Wiesenthalö) schreibt: „ollos äsmanäoiit s,
kai-is la kamouso Loussoi-kitiou, <^us vous couuuisssr."
Deutsche Musiker, Sänger, Schauspieler und Tänze-
rinnen ernten heute in Deutschland selbft genug kluge
und klingende Anerkennungen; ein Erfolg in Paris
sügt ihnen heutzutage höchstens Goldmünzen, nicht aber
Weihe hinzu, zumal Paris allen neuen Bestrebungen
der Schaubühne und Tanzkunst, die Europa erobert
haben, ablehnend und verständniöloö gegenübersteht. Das
lächelnde Kopfnicken einer alten Dame, untermischt mit
leiser Ironie, ist sür keines Menschen Erfolg maßgebend.

Wir arbeiten und schaffen, sammeln Güter, er-
sinnen Dichterwerke, bilden eine neue Kunst und gründen
ringend und ftrebend ein neues Gemeinsamkeitsgefühl,
das das Verantwortungsbewußtsein deö Einzelnen weckt
und ftählt und zum Ganzen in Beziehung setzt. Der
kleinliche Hader verstummt; denn die Bewußtheit des
Einzelnen alö Teil einer Vielheit erwacht! Wir reifen
zu einer freien, stolzen und schönen Moralität, die den
Kopf hoch trägt, weil sie all ihr Denken und Handeln
durch Würde und ErkenntniSkraft vertieft.

Heben wir aber einmal in einer Labestunde das
Haupt und faffen das verschwimmende Bild der Fata
Morgana feft ins Auge, so erscheinen uns die mytho-
logischen Vorstellungen, die einst Paris in uns weckte,
wie ferne Jugendträume, die keine Sehnsucht mehr in
uns anzünden. Die Sonne unserer werdenden Größe
übcrstrahlt die Illusion unserer Kindheit. Die schon
erreichten Erfolge geben unö Mut und Zuversicht.
Unsere Sehnsucht ist auf unser Land gerichtet, unser
Wille auf uns selbst.

Paris alö Jdeal der Deutschen verblaßt. Za, wenn
die Stadt wollte, wenn Regierung und Volk einig
wären in einem großen und glühenden Willen, ein
neues Vorbild zu schaffen; es könnte noch einmal ein
glückliches und beglückendes Ientrum Europaö werden.
Aber hoffärtig wie einst Venetien pochen sie auf ihre
Licht verbrcitcnde Vergangenheit, verschließen sich blind
gegcn die Kleinheit ihrer Gegenwart und verabsäumen
vieles, der Weltstadt einen neuen Strahlenmantel zu
wirken. Die Zeit aber schreitet weiter über das in
Schönheit verglimmende Jdeal hin. Otto Grautoff.

ie kurländische Schneeflocke.

Von Hans Kaiser.

Am westlichen Horizont des weiten, flachen Landes
schob sich langsam eine blauschwarze Wolkenwand herauf,
wuchs nach allen Seiten schnell und drohend, der ganze

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