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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 19.1910

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Heft 1
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Lissauer, Ernst: Über die Lyrik Gottfrid Kellers
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https://doi.org/10.11588/diglit.26462#0042

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Über die Lyrik Gottfried Kellers.

Kellers angeschlossen werden, die ganz aus liberal-
demokratischen und antiklcrikalen Grundiagen ruht. Ge-
mäß der Beschaffenheit deS Landes, daö er in allen
wesentlichen Eigenschaften besang, preist cr oft den
Weinbau und erbaut, selbst ein wackrer Iecher, eine
ganze „Trinklaube". Seinc Liebeslieder sind von mannig-
faltigster Tönung: bald anmutiger Scherz, bald herbe
Wehklage. Wie er den Volkston zwar nicht nach-
ahmt, aber „alte Weisen" schafft, die zugleich volkö-
tümlich schlicht und kunstvoll rund sind, so hat er
auch für den völkischen Menschen, für „das Volk",
Teilnahme und singt die von echt demokratischem
Geiste eingegebenen Gedichte zuin Lobe von Bauern
und Landleuten.

Damit ist von dem Gehalt der Kellerschen Lyrik
bereitö etwas angcdeutet. Jn der Bevorzugung fester
kerniger Rhythmen wirkt sich das männlichc Element
in Keller aus, sein tüchtigeö, ernstes, etwas schwereö
Wesen und seine Vorliebc für Wörter der Ver-
kleinerung gibt seine Liebe zum Anmutigen und
Zarten, zu einem bcstimmten Typuö des Weiblichen,
der in seinen Gedichten und seiner Prosa mannigsach
erscheint, jenes beschlossen etwa in dcn Worten des
alten Bauern: „Iur llbung, Stärkung unsrem Streben,
ward dieser harte Ackergrund gegeben", dieses in den
Wortcn deS Dichtcrs zum Tode, daß seine Aufgabe
sei: „süße Frauenbilder zu crfinden, wie die bittre Erde
sie nicht hegt." Dicser Iusammenklang deö Tüchtigen
mit dem Anmutigen gibt den Kellerschen Gedichten ihren
bestimmten unverwelklichen Reiz, und er ift auch das
Element, das sie mit der Goetheschen Lyrik vcrwandt
macht. Ein großer Teil könnte mit dem Wort Goethes
vom „tüchtigen, tätigen Mann", ein andcrcr großer
Teil mit dem Wort „zierlich denken und süß erinnern
ist das Leben im tiefften Jnnern" zusammengeschlossen
werden; was über diese beiden Grundkomplexe hinaus-
weist, ist jene Frömmigkeit, die das heilige Wesen, die
Seele der Seele dieser Lyrik ist.

Keller steht im irdischen Leben da alö ein tüchtiger,
tätiger Walter und Wirker, und dieselbe Art erweist er
auch in koömischen Dingen; Welttüchtigkeit ist seine
Frömmigkeit. Scine Frömmigkeit ist wic sein ganzes
Sein und Tun bar aller Phrase, und dieö in solchem
Maße, daß er in allen Formeln, Riten, Dogmen
die Erstarrung wahrnimmt und, wie Schiller, religionö-
los wird auö Religion. Die Freiheit eineS Christen-
menschen sich mittlerloö mit seiner Gottheit auseinander-
zusetzen hat er erworben, um sie zu besitzen. An
allen Enden seiner Lyrik webt Gottheit und Gott-
gesühl, und sein Empfinden für die Größe der Allgott-
heit ift so ftark in ihm, daß eben vor ihr alles Gefühl
deö Selbft, aller EgoismuS, alle Eitelkeit, „der letzte
leise Schmerz und Spott", zerdunstet. Er hat „das
Trugbild der Unstcrblichkeit" dahin gegeben und weiß,
daß er gleich der Lilie vergehen muß, aber er fühlt
andrerseits in seligen Hochgezeiten der Seele die
Gemeinschaft alleö Lebendigen. Wie oft in der Ge-
schichte deö Geistigen sieht man auch hier daö wahre,
aus innerstem Wesen deö Jndividuumö gezeugte
Gemeinschaftsgefühl in einer doppelten Art sich offen-
baren: alö demokratisches sozialeö Wollen, irdisch, alö

Drang zur ganzen Welt, koömisch. Der gleiche Trieb,
der ihn spüren läßt „Zusammenhang mit dem All und
Einen", heißt ihn sich als Landsgenossen unter Lands-
genoffen fühlen. Das Bewußtsein wirkt in ihm, daß
er ein Teil unter Teilen ift: wie eine Volks-, so eine
Weltzelle, und daß diese Teilhaftigkeit Pflicht auferlegt
gegenüber dem Ganzen, sei eö der Volk- und Menschheit,
sei eS der Welt, die Pflicht des SchillcrworteS: „immer
strebe zum Ganzen!" Der fruchtbar ist, hat die Pflicht,
Frucht zu bringen; der vollcr Flut ift, sic auszuströmen:
sich mitzuteilcn ist die Moral des Teils. Keller besitzt
diese schcnkende Güte: demütigen Herzens sollen die
Prophcten sich neigcn und Licht bringen in dcr letzten
Hütte Nacht. Als ein Bekenntnis und Sinnbild seines
Wesens leitet daö „Spielmannslied" die Gedichte ein:
der Dichter, als ein Kind im Feld entschlafen, wird von
dem Samenwurf deö AckererS getroffen, das Gleichnis
auö der Bergpredigt fteigt auf, bang zittert durch das
Gedicht hindurch die Frage: „Waö bist du für ein
Ackerfeld?", der dann die Antwort wird:

„Jch glaub, ich bin der offne Weg .. .

Das kommt und geht, doch fällt einmal

ein irrend Samcnk'ornlein drauf,

so stiegt ein hungrig Voglein her

und schwingt sich mit zum Himmel auf."

Kellers Bescheidenheit nennt ihn brach, aber findet Trost
in der Gewißheit dann und wann doch auch ein wcnig
schenkcn zu dürfen. So kann er das „Tagewerk" des
LiedeS nicht vollbringen und findet Trost in dem Gefühl,
daß sein Lied aufgehoben ist zu den Sternen, ein-
gegangcn in den Gesang der Welt.

Das Gesühl deö Zusammenhanges alles Lebendigen
läßt ihn andrerseits im Jrdischen eben das Kosmische
erkennen: er fühlt die Erde sclbst schweben als Stern
untcr Sternen; Gras, Berg, Wolken, Menschen atmen
in einem Odem, in einer Luft, von einem Leben er-
füllt, und so gelangt er zu jenem lustvollen Besingen
irdischer Dinge, das alö cin mächtiger Orgelpunkt unten
entlang seiner ganzen Dichtung tönt, und zu jener
Freude am „goldnen llberfluß der Welt", der seine
Anschauung allenthalben mit Millionen dichterlicher
Lichter beschäumt.

Der Gottfried Keller, der sich in dicsen Gedichten
offcnbart, ist in sciner gediegenen Werklichkeit, seiner
ehrenfesten Bürgcrlichkeit, seiner mit Erde genährten
Völkischkeit, seiner stetigen Tüchtigkeit, seiner selbft-
bewußten Bescheidenheit, seiner frommen Weltbeschaulich-
keit durchaus zu vergleichen mit Hans Sachs, nicht
dem der Wirklichkeit, wobl aber dem visionär geschauten,
auö den Kräften des eignen Wagnerschen Genies ge-
steigerten Hans Sachs der „Mcistersinger". Es möchte
für die Blicke teilnahmsvoller Leser am Schluffe dieser
andeutenden Darlegungen der Gcdanke dieser Verwandt-
schaft als ein geistiges Mal aufgerichtet werden in d-m
Sinn, daß mancher nun beim Hören dieser treibenden
Melodiecn und Verse verehrend des Meistersingerö Gott-
fried Keller von Zürich gedenke und so manches von
diesen glücklich sich aussingenden Musiken, Stimmen,
Geigen, Flöten, ihm als eine unendliche Melodie des
Lobeö und Dankes dargebracht werde.
 
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